Autokraten in der Nachbarschaft erpressen die EU. Das schränkt ihre Handlungsfähigkeit stark ein, warnt der Politologe Florian Bieber im Gastkommentar.

2.000 Menschen harren in der belarussischen Ortschaft Brusgi in einem Logistikzentrum aus. Ihr Ziel ist die EU.
Foto: AFP / Leonid Shcheglov

Wenn der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki in einem Video zu dramatischer Musik die historische Rolle Polens als Verteidiger Europas beschwört und erklärt: "Wenn jemand in unser Haus einbricht, so verteidigen wir unser Haus", dann ist die fatale Allianz zwischen Rechtspopulisten in Polen oder Ungarn und Autokraten an den Grenzen der Europäischen Union aufgegangen. Natürlich gibt es kein Bündnis zwischen dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und der polnischen Regierung, aber sie unterstützen einander durch ihr Verhalten und zerstören dabei die europäische Integration.

Es besteht kein Zweifel, dass das Regime in Belarus gezielt Flüchtlingen die Einreise ermöglich hat und ihnen geholfen, ja, sie sogar gedrängt hat, die polnische Grenze zu stürmen. Es zeugt vom tiefen Zynismus des Diktators, aus der Verzweiflung von Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan politisches Kapital schlagen zu wollen. Doch wenn die Ankunft von einigen Tausend Flüchtlingen an der EU-Außengrenze nicht eine tiefgreifende Panik auslösen würde, die die Aussetzung von Menschenrechten, die Einschränkung von Pressefreiheit und Bedrohungsszenarien hervorruft, dann hätte Lukaschenko kaum ein Interesse an diesem Manöver.

Gewalt gegen Flüchtlinge

Derzeit ist die EU an ihren Außengrenzen von Belarus bis Marokko mit mehr oder weniger autoritären Herrschern konfrontiert, von denen sie erhofft, dass diese die Grenzen der Union absichern. Erst im Mai hat Marokko tausende Menschen in die spanische Exklave Ceuta fliehen lassen. Der Grund? Spanien hat dem Anführer der westsaharischen Befreiungsbewegung Frente Polisario, Brahim Ghali, erlaubt, seine Covid-19-Erkrankung im Lande zu behandeln. In Libyen haben verschiedene Regierungen und Rebellenkräfte um die Gunst europäischer Regierungen gebuhlt, indem sie mit großer Brutalität Menschen die Flucht nach Lampedusa und Malta unmöglich machen.

Das Abkommen zwischen Recep Tayyip Erdoğan und der EU aus dem Jahr 2016 gab dem autokratischen türkischen Präsidenten finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge, wenn er zugleich die Grenzen nach Europa schließt. Dass die Türkei die Grenzen auch wieder öffnen kann, damit droht Präsident Erdoğan in regelmäßigen Abständen, im März 2020 etwa, als tausende Flüchtlinge versuchten, über die Landgrenze von der Türkei nach Griechenland zu gelangen.

Geschürte Angst

Selbst auf dem Westbalkan haben Regierende gelernt, wie man aus der europäischen Migrationsangst Kapital schlägt. 2015 noch hat sich der damalige serbische Premierminister Aleksandar Vučić dessen gerühmt, dass Serbien im Umgang mit Flüchtlingen "europäischer" als manches Mitgliedsland, gemeint war zweifellos Ungarn, sei. Mittlerweile sind Vučić und Viktor Orbán enge Verbündete, und der ungarische Ministerpräsident drängt auf eine baldige EU-Mitgliedschaft für Serbien.

Mit Grenzschließungen und Gewalt gegen Flüchtlinge, die versuchen, in die EU zu gelangen, kann man an der EU-Außengrenze Geld oder politische Unterstützung gewinnen. Diese europäischen Grenzwächter tragen die EU-Außengrenze nach Nordafrika, in den Nahen Osten und nach Osteuropa. Lukaschenko, dessen Herrschaft seit dem Wahlbetrug vergangenes Jahr brutaler geworden ist und zugleich auf wackligeren Füßen steht, erhofft sich offensichtlich, ein weiterer Nutznießer zu werden. Indem er Menschen über die Grenze drängt, zeigt er, dass auch er der EU einen Schrecken einjagen kann und natürlich, für den richtigen Preis, diesen auch wieder kontrollieren kann.

"Regierende haben gelernt, wie man aus der europäischen Migrationsangst Kapital schlägt."

Die mittlerweile dominante Angst vor Migration und Fluchtwellen hat dieses Druckmittel ermöglicht. Einige Regierungen wie die der PiS-Partei in Polen oder die in Orbáns Ungarn haben Angst vor Migration geschürt, als weder viele Migrantinnen und Migranten dauerhaft im Land lebten, noch es ein wichtiges innenpolitisches Thema war. Diese Angst, von Rechtspopulisten von der AfD oder FPÖ verbreitet, ist längst europäischer Mainstream.

Der Schwerpunkt auf Grenzsicherung der Festung Europa gehört zu einem Kernaspekt dessen, wie die EU-Kommission die "Förderung unserer europäischen Lebensweise" versteht. Dies schwächt die EU unabhängig von der Frage der Grundwerte, die durch illegale Pushbacks in Kroatien, andere Menschenrechtsverletzungen an der EU-Grenze und fehlende Hilfeleistung im Mittelmeer aufgeweicht wurden. Die Angst der EU vor Migration hat dazu geführt, dass den Ambitionen der "geopolitischen EU-Kommission" Grenzen gesetzt sind. Wenn Autokraten in der EU-Nachbarschaft die EU leicht erpressen können, dann ist die Handlungsfähigkeit der EU stark eingeschränkt, und es wird schwieriger, dort Demokratie und Menschenrechte einzufordern.

Gefährliche Gemengelage

Zudem schwächt es die Rechtsstaatlichkeit in der Union selbst. Die Staaten an der EU-Außengrenze setzen regelmäßig Recht außer Kraft, wenn es um Flüchtlinge geht, zuletzt Polen, das mit einer Anlassgesetzgebung nicht nur Pushbacks legalisiert, sondern auch den Zugang für Medien und Zivilgesellschaft an der Grenze einschränkt. Es sind auch gerade jene Regierungen, die sich am lautesten als die vermeintlichen Verteidiger Europas darstellen, die selbst europäische Rechtsstaatlichkeit gezielt aushebeln. So kann die polnische Regierung sich nun als der Beschützer Europas stilisieren, während sie tatsächlich die polnische Mitgliedschaft in der EU in den letzten Monaten massiv infrage gestellt hat.

Die Symbiose zwischen selbsterklärten Verteidigern Europas in der EU und autoritären Grenzwächtern ist somit eine gefährliche Kombination, die sich die EU durch die panische Angst vor Migration und Fluchtwellen selbst eingebrockt hat. (Florian Bieber, 24.11.2021)