Dem Physioteam musste David Shengelia dann absagen. Schweren Herzens, wie der Bundestrainer erklärt. Denn Shengelia nimmt seine Aufgabe ernst: Der Coach hätte das Nationalteam Anfang November beim Trainingslager am Stadtrand von Graz gerne optimal vorbereitet. Denn von dort ging es am 11. November für je fünf Spielerinnen und Spieler samt Betreuerstab "volée" nach Catez, einem slowenischen Thermenzentrum. Doch von den Wellnesseinrichtungen bekam die Mannschaft in Rot-Weiß-Rot dort wenig mit: Vom 12. bis zum 22. November war in Catez Wettkampf angesagt. Herrenteams aus 39 und Damenteams aus 31 Ländern wollten an neun Spieltagen Europameister küren. Europameister im Schach. Genauer: im Teambewerb.

Im Novapark-Hotel in Graz bereitet sich Österreichs Schach-Elite auf die Mannschafts-EM vor.
Foto: Alexander Danner

Dass er da im Vorfeld beim Trainingslager aufgrund der Corona-Regeln den fix eingeplanten Physiotherapeuten absagen musste, schmerzte den Teamcoach: "Die Belastungen eines solchen Turnieres sind extrem. Da wäre Physio wichtig gewesen", sagt Shengelia, tröstet sich aber mit der Professionalität des Teams: "Sie wissen, worum es geht – und trainieren professionell." Und das, so Shengelia, bedeute neben täglich sechs bis acht Stunden Schach- auch Fitness- Cardio- und Krafttraining. Mindestens eine Stunde am Tag.

Die verblüffte Reaktion kennt der 41-jährige Ex-Georgier, der seit 2004 in Wien lebt, gut. Schachspieler trainieren "echten" Sport? Shengelia lacht. "Schauen Sie sich Magnus Carlsen an: Der entspricht optisch wohl eher einem Wasserballer als dem, was viele sich bei einem Schachspieler vorstellen." Doch genau das ist der 31-jährige Sven Magnus Øen Carlsen: Schachspieler – und zwar der beste der Welt. Seit 2011 hat niemand den Norweger vom Spitzenplatz der Fide-Weltrangliste auch nur einen Tag verdrängen können. Und wer einen schmalbrüstigen Nerd erwartet, hat von Schach heute keine Ahnung: Carlsen ist ein Popstar. Eine Celebrity, die auf roten Teppichen mit Stars wie Liv Tyler auf Augenhöhe präsentiert wird.

Schachpopstar Sven Magnus Øen Carlsen.
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Kalorienfresser Schach

Auch wenn sein Jahreseinkommen mit geschätzten 1,5 Millionen Dollar mit den Gagen von Messi & Co nicht mithalten kann: Carlsen ist Leistungssportler. Um beim Schach vorne dabei zu sein, genügt Talent allein längst nicht mehr.

Das war nicht immer so. Doch spätestens seit den legendären Ost-West-Duellen der späten 1970er zwischen Viktor Korchnoi und Anatoli Karpow hat sich dieses Bild gedreht. Schach wird ganzheitlich gespielt. Am Tisch – aber auch abseits davon. Psyche und Physis sind zentrale Faktoren. Denn für stundenlanges, brillant-analytisches Fokussieren braucht der gesunde Geist eines unbedingt: den gesunden Körper.

Dazu gehören nicht nur mehrstündige Schachpartien, ...
Foto: Alexander Danner

"Gute Spieler haben eine Ausdauer wie Hermann Maier", sagt der steirische Sportpsychologe Alois Kogler. Kogler betreut die heimische Schachelite ebenso wie das österreichische Fußball-U-21-Team. Natürlich seien im Schach nicht die Muskelmasse und Rohkraft ausschlaggebend. Wichtig sei aber, Leistung auf allerhöchstem Niveau stundenlang abliefern und halten zu können. Doch kaum jemand wisse, dass "kognitive Leistung ein enormer Kalorienfresser ist". Einfacher formuliert: "Gut ein Viertel der Energie, die der Körper verbrennt, verbraucht das Gehirn." Anstrengung ist messbar. Auch im Schach: Kogler maß Blutwerte von heimischen und internationalen Größen vor, bei und nach Turnierspielen – und stellte signifikante und faszinierende Parallelen zu körperlich dem Augenschein nach "aktiveren" Sportarten fest.

Täglich Fitnesstraining

Doch so tief muss man gar nicht in die Maschine "Mensch" eindringen. Laufen, Kraftkammer, Moutainbiken oder Basketball, gewährte Valentin Dragnev, die aktuelle Nummer zwei der österreichischen Schachszene, dem Schachmagazin im Vorjahr Einblick, würden gut zehn Prozent seiner Trainingszeiten ausmachen. Ähnlich, berichtet Felix Blohberger, aktuell Österreichs Nummer vier, aus Catez, sei es auch bei ihm: "Abseits der Wettkämpfe verbringe ich etwa sechs Stunden mit Schach, eine mit Fitness- oder Ausgleichssport." Ja, natürlich täglich, so der 19-Jährige.

... sondern auch tägliche Arbeit mit dem Physiotherapeuten, Konditions-, Fitnesstraining und Ernährungsberatung.
Foto: Alexander Danner

Wie sich das mit Schule, Studium und Beruf ausgeht? Blohberger macht gerade ein Jahr Pause, um seine Chancen als Profi auszuloten. Im Sommer maturierte er an einer Sport-AHS. Seite an Seite mit Fußballern und anderen "echten" Athleten. Deren anfängliche Skepsis, erzählt er, sei rasch verflogen, als sie mitbekamen, was es körperlich bedeutet, bei einem mehrtägigen Turnier täglich mehrere Stunden ruhig zu sitzen – und konzentriert zu bleiben. Das gelte, weiß Blohberger und unterstreicht auch Nationalcoach Shengelia, zwar auch für "Normalos" mit sitzenden Tätigkeiten, aber im Wettkampfmodus könne das "Sitzfleisch" spielentscheidend sein. Das, so Shengelia, gelte nicht nur für Schachspieler: "Der Rücken, der ganze Stützapparat, muss mitspielen – und deshalb dementsprechend stark sein. Das wird jeder Konzertpianist bestätigen."

Beim Schach, betont Sportpsychologe Kogler, habe Beinarbeit aber andere Aufgaben als am Piano: "Die Füße ruhig halten" zu können, sei mehr als eine Metapher. "Die Beine sind evolutionär bedingt ‚emotionale‘, die Hände ‚kognitive‘ Werkzeuge." Aber auch Indikatoren: Ihre Signale verraten eine Menge über Mindset und Selbstvertrauen.

Aus diesem Grund, sagt Werner Schweitzer, hätten Elitespieler nicht nur Pysiotherapie, Fitnessbetreuung und Ernährungsberatung in ihren Alltag integriert, sondern auch Mentalcoaching. Schweitzer ist Motivationstrainer – und die Betreuung von Schachspielern seine Spezialität. Schach sagt er, sei Golf nicht unähnlich: "Wer beim Golf den Gegner lobt, lenkt ihn ab – das schwächt ihn." Wieso? "Wer in Gedanken anderswo ist, verliert – und zwischen den Spielzügen hat man beim Schach viel Zeit für unnötige Gedanken." Störendes nicht zuzulassen sei oberstes Gebot: "Unser Gehirn ist ein Ein-Prozessor-Computer: Niemand kann an zwei Dinge gleichzeitig denken." Sich nicht ablenken zu lassen könne und müsse man trainieren. Genauso wie das wie das Vermeiden oder Ausblenden momentaner Befindlichkeiten.

Ganzheitlich

Diese Fokussiertheit zu halten, sagt David Shengelia, sei schon bei einer "einfachen" Partie Schach nicht easy – bei einem neuntägigen Turnier, bei dem man oder frau täglich gegen die besten Schachspielerinnen aus fast 40 Ländern antritt, aber noch komplexer: Jeden Gegner im Vorfeld genau zu analysieren, Schwächen und Stärken zu kennen und auszuloten und Strategien zu entwickeln, sei essenziell – aber eben nicht alles: "Wer Schach nur so trainiert, hat eines nicht verstanden: Schach spielt man nicht nur auf einem Schachbrett – es ist ganzheitlich." (Tom Rottenberg, 24.11.2021)