Trachtenexpertin Gexi Tostmann und die Macherinnen des Streetwearlabels "Kids of the Diaspora" sprechen über Mode. Location: Das Kraus, Große Pfarrgasse 7, 1020 Wien

Foto: Mafalda Rakoš

Gexi Tostmann springt in der Großen Pfarrgasse aus dem Taxi und sieht sich um. Hier im zweiten Wiener Gemeindebezirk sei sie schon länger nicht gewesen. Wobei: Ist da nicht das Kriminalmuseum um die Ecke? Ist es.

Jetzt aber erst mal hinein ins Kraus, eines der angesagten Lokale in der Leopoldstadt. In der Sitzecke testet die Trachtenunternehmerin die Sessel aus, wenig später schneien Leni Charles und Cherrelle Olukemi, Künstlerinnenname Cherrie O., die beiden Macherinnen des Streetwearlabels "Kids of the Diaspora", herein. Die drei Frauen begegnen sich zum ersten Mal, los geht das Gespräch.

STANDARD: Frau Tostmann, man kennt Sie nur im Dirndl. Sind Sie zu Hause in Jogginghose oder Kapuzenpullover unterwegs?

Tostmann: Um Himmels willen, nein! Hat nicht schon Karl Lagerfeld festgestellt, dass Jogginghosen eine Sünde sind? Trainingshosen empfinde ich für mich als unpassend. Kapuzenjacken trage ich schon eher, draußen zum Spazierengehen oder zum Holzholen.

STANDARD: In der Öffentlichkeit bleiben Sie der Tracht treu.

Tostmann: Ich besitze kaum etwas anderes als Dirndl. Außerdem passieren mir seltsame Dinge, wenn ich keines trage: Ich habe einmal meine Tochter in Kanada besucht. Sie ist am Flughafen an mir vorbeigelaufen – weil sie mich nicht erkannt hat.

Gexi Tostmann hat für das Gespräch einige Tücher mitgebracht (das Outfit soll schließlich zur Umgebung passen), Leni Charles (Mitte) und Cherrelle Olukemi sind im "black dress" und Accessoires ihres Labels "Kids of the Diaspora" da.
Foto: Mafalda Rakoš

STANDARD: Das Dirndl ist also Ihre Uniform geworden?

Tostmann: Ich würde eher, in Anlehnung an die Leibspeise, von "Leibkleid" sprechen.

STANDARD: Leni Charles und Cherrelle Olukemi machen mit ihrem Label "Kids of the Diaspora" Streetwear: Können Sie mit dieser Mode etwas anfangen?

Tostmann: Mir gefällt das! Ich finde ihre Mode sehr brauchbar, das hat sie mit der Trachtenmode gemein. Ich habe übrigens das Phänomen Streetfashion verfolgt. Erich Sokol, ein Freund von mir, hat oft Leute auf der Straße in ihrer Mode fotografiert. Mit Dirndln konnte er kaum etwas anfangen, aber die Kleidung auf der Straße hat ihn interessiert.

STANDARD: Wissen Sie eigentlich, seit wann es Streetwear gibt?

Cherrelle Olukemi: Die Bezeichnung gibt es seit den 1980er-Jahren, der Hip-Hop-Kultur, vielleicht sagt Ihnen Grandmaster Flash etwas.

STANDARD: Frau Tostmann, Sie sind 1967 ins Unternehmen Ihrer Eltern eingestiegen. Hätten Sie sich vorstellen können, etwas anderes zu machen?

Tostmann: Ich habe mich ausgezeichnet durch Nichtkönnen. Weder war ich besonders begabt im Singen oder Zeichnen noch im Rechnen. Kochen konnte ich auch nicht. Aber mit Menschen reden, organisieren, so was lag mir. Heiraten wollte ich nicht, ich sah keine andere Möglichkeit.

Foto: Mafalda Rakoš

STANDARD: Sie untertreiben jetzt aber. Mit 25 haben Sie eine Dissertation geschrieben.

Tostmann: Das ist ja nix! Vom Handarbeiten war ich befreit, weil ich zwei linke Hände habe. Damit ich eine Grundlage habe, habe ich Volkskunde studiert und mich mit Tracht auseinandergesetzt. So konnte ich zumindest theoretisches Wissen in die Firma einbringen.

STANDARD: Frau Charles, Frau Olukemi, auch Ihr Label ist ein Familienunternehmen. Warum machen Sie Streetwear?

Leni Charles: Alles hat mit einem bedruckten T-Shirt begonnen. Wir wollten mit dem Slogan "Kids of the Diaspora" ausdrücken, dass wir hierher gehören, obwohl wir nicht wie die Mehrheitsgesellschaft aussehen. Diese Message wollten wir Menschen, die das Gefühl der Ausgrenzung kennen, zugänglich machen.

Tostmann: Sie haben sich nicht zu Hause gefühlt?

Charles: Ich habe mich in meiner Kindheit in Niederösterreich nicht akzeptiert gefühlt. Ständig wurde hervorgehoben, dass man anders aussieht, es kamen Fragen, ob man adoptiert sei. Unser Vater ist in Nigeria geboren, aber ich bin Österreicherin – und noch immer werde ich täglich gefragt, woher ich komme. Das reibt auf. Mit unserem Projekt zeigen wir auf, dass Menschen, die mit Rassismus aufgewachsen sind, ihnen auferlegte Denkmuster abschütteln.

Olukemi: Ich würde allen empfehlen, sich mit neugierigen Fragen zurückzuhalten. Man weiß nicht, was die in den Befragten auslösen.

Bauchtasche und Kleid von "Kids of the Diaspora".
Foto: Mafalda Rakoš

Tostmann: Und ich frage immer alle alles. Da muss ich mich jetzt entschuldigen!

STANDARD: Frau Tostmann, gehen wir wieder ein paar Jahre zurück. Sind Sie im Alter von Leni Charles und Cherrelle Olukemi schon in Tracht herumgelaufen?

Tostmann: Ja, das war für mich ganz selbstverständlich. Nur im Hawelka habe ich selten eines angehabt. Selbst in Tübingen, wo ich viele linke Freunde hatte, habe ich es getragen.

STANDARD: Wie fanden das die linken Freunde?

Tostmann: Fesch! Den braunen Geruch, der am Dirndl klebte und auch heute immer wieder spürbar ist, hat man in Deutschland nicht so mitbekommen wie in Österreich. Die Nazis haben die Tracht ja für ihre Ideologie eingesetzt.

Charles: Wenn ich das höre, bekomme ich Gänsehaut!

STANDARD: Wie hat sich die Tracht seither verändert?

Tostmann: Bei uns nur in Details. Mal haben die Kleider mehr geschweifte Abnäher, mal flachere. Es gab Zeiten, da waren die Röcke kürzer, und dann wieder länger, die Farben tendierten mal in Richtung Rosa oder Lila, dann sind wieder Grau oder Dunkelblau angesagt. Aber das Dirndl ist teilweise zum Wegwerfprodukt geworden. Heute kostet so ein Kleid 29 Euro: Man geht in ihm auf die Wiesn, speibt es an und haut es weg, kostet ja nichts.

STANDARD: Können Sie als Streetwear-Designerinnen die Begeisterung fürs Dirndl teilen?

Charles: Sagen wir so: Ich mag die Detailverliebtheit des Kleidungsstücks. Es steht in Kontrast zu den sleeken, cleanen Unisex-Sachen, die wir machen. Ich finde aber auch schön, dass man mit dem Dirndl Geschichten erzählen kann: Trage ich die Masche links oder rechts, verändert das die Bedeutung des Kleidungsstücks. Veranstaltungen wie die Wiesn in München oder das Oktoberfest im Prater interessieren mich nicht.

STANDARD: Wann würden Sie eines anziehen?

Charles: Wenn sich die Gastgeber auf einer Hochzeit wünschen, dass die Gäste Tracht tragen.

Olukemi: Meine Nichte hat Weihnachten im Ausseer Dirndl gefeiert. Das wurde ihr von der Oma geschenkt.

Charles: Ich habe das erste Dirndl mit sieben bekommen. Meine Freundinnen hatten eines, also wollte ich es auch. Das war aber kein Gescheites, ich habe mich in ihm nicht wohlgefühlt.

Werbeprospekt von Tostmann.
Foto: Mafalda Rakoš

Tostmann: Dann hätten Sie zu uns kommen müssen.

Olukemi: In Ihrem Geschäft waren wir beide noch nicht. Ich habe mein erstes Dirndl mit 23 besessen. Heute habe ich eines, das fällt aber eher in die Kategorie "zum Wegwerfen". Ich ärgere mich, dass die Knöpfe abgehen. Aber als Jugendliche den eigenen Körper mit dem Dirndl und seinen Schnürungen zu entdecken, kann Spaß machen.

STANDARD: Gexi Tostmann meinte einmal, Frauen würden im Dirndl zu Göttinnen, Vivienne Westwood ist ähnlicher Meinung. Können Sie sich dem anschließen?

Olukemi: Durchaus. Ich weiß, dass einige das Dirndl kritisch sehen, weil es den weiblichen Körper zusammenschnürt. Ich kann das ausblenden, für mich ist das Dirndl Entertainment. Im Alltag und auf der Straße würde ich es nicht tragen, weil ich mich overdressed fühlen würde. Man sitzt gleich so gesackelt da, das gilt auch für Lederhosen und Loden.

Tostmann: Für mich ist das Dirndl ein "Jasagen" zum Frausein. Die Männerkultur nachzumachen entspricht nicht meiner Vorstellung von weiblicher Emanzipation. Die Männer haben der Gesellschaft viel Schaden zugefügt. Außerdem möchte ich den ökologischen Aspekt des Dirndls hervorheben, die Pflege des Handwerks.

Charles: Der Gedanke der weiblichen Energie spricht mich an: Ich habe mir eben erst ein rosa Sofa gekauft, das sprüht nur so vor "feminine energy". Wir haben gerade auch ein "kleines Schwarzes" entworfen. Dieses Kleid ist für jede Frau und jede Körpergröße gemacht, "in honour of the black woman". Wer will, trägt es in Solidarität mit der schwarzen Frau. Wir vertreten einen intersektionalen Feminismus, vom Feminismus werden nämlich noch immer viele Frauen ausgeschlossen.

Olukemi: Wir hinterfragen mit unserem Kleid auch das "kleine Schwarze" von Coco Chanel, das war nie für die schwarze Frau gedacht. Und weil viele Frauen nicht eingeschnürt werden wollen, haben wir ein einfaches Kleid ohne Schnürung entworfen.

Tostmann: Da muss ich an Emilie Flöge denken. Sie wollte Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem körperfern geschnittenen Reformkleid das Korsett abschaffen, am konservativen Bürgertum hat sie sich die Zähne ausgebissen. Nach 30 Jahren war es wieder weg vom Fenster. Das Dirndl hingegen ist bis heute da. Was ich aber noch fragen wollte: Gibt es Ihr Kleid auch in meiner Größe? Ich bräuchte fürs Theater ein kleines Schwarzes.

Olukemi: Das können wir Ihnen gerne schicken. Wir stellen unsere Mode übrigens in Wien im "Schnittbogen" her. Für das Kleid haben wir in Europa produzierte Biobaumwolle, ein Restposten-Material, sogenannten Deadstock, verarbeitet.

STANDARD: Die Tostmann-Tracht wird mit jungen, schlanken weißen Models beworben. Posiert wird vor Bilderbuchkulissen. Ziemlich klischeehaft, oder?

Foto: Mafalda Rakoš

Tostmann: Ich will mich nicht herausreden, aber die Bilder verantwortet meine Tochter. Sie hat momentan vor allem Corona-bedingt so viel in unserem Stammhaus am Attersee zu organisieren, dass sie nicht kommen konnte. Manches ist mir zugegebenermaßen zu glatt. Aber plötzlich auf schwarze Models zu setzen, erscheint mir anbiedernd. Das fühlt sich für mich an, als mache man das für den Zeitgeist.

Charles: Für dieses Phänomen gibt es auch einen Begriff, nämlich "Woke Washing".

Olukemi: Ich bin aber der Meinung, dass man durch diese Phase hindurchmuss. Erst wenn man überall inklusivere Werbung sieht, wird sich das nicht mehr falsch, sondern normal anfühlen.

STANDARD: Fühlen Sie sich angesprochen von den aktuellen Werbebildern?

Charles: Nein, ich würde mir denken: Ach, das ist für meine Freunde, die auf die Wiesn gehen.

Olukemi: Wir haben ja keine Ahnung, wo man ein Dirndl sonst noch anziehen kann. Wir reden immer von der Wiesn – und Frau Tostmann lacht schon wieder!

Tostmann: Die Besucher der VIP-Zelte der Münchner Wiesn sind oft Tostmann-Kunden, außerhalb der Zelte ist die Wiesn eigentlich kaum ein Thema für uns. Aber es gibt auch die vielen private Feste, Feierlichkeiten von der Taufe bis zum Begräbnis und natürlich die Trachtenbälle, Kirtage und Festspiele im ganzen Land.

Olukemi: Ach ja? Was kosten denn eigentlich Ihre Dirndl?

Tostmann: Rund 1000 Euro, bei 300 Euro geht es los. Aber unsere Dirndl hat man ein Leben lang, sie wachsen mit der Trägerin mit und man vererbt sie. Zur Zeit lassen viele Mädchen die Dirndl ihrer Großmütter bei uns ändern.

STANDARD: Wie würden Sie Mode von Tostmann bewerben?

Olukemi: Das Unternehmen ist ja etabliert. Ich würde die Tracht tragbarer darstellen, alltäglicher inszenieren, unterschiedliche Altersgruppen integrieren, den Dialog zwischen den Generationen abbilden. Frauen im Alter von Frau Tostmann sind auf den Bildern gar nicht vertreten. Viele Österreicher und Österreicherinnen der nächsten Generation haben einen migrantischen Hintergrund. Sie würden sich freuen, wenn sie sich repräsentiert sähen.

STANDARD: Jetzt müssen aber auch Sie, Frau Tostmann, das Konzept von "Kids of the Diaspora" kommentieren.

Tostmann: Ich finde die Sachen fesch. Aufgefallen ist mir in der Kollektion natürlich das Arschwimmerl (Bauchtasche, Anm.), das kenne ich von früher. Ihre Website würde ich ein bisschen überarbeiten.

STANDARD: Würden Sie zum Beispiel so ein schwarzes Sweatshirt auf dem Sofa anziehen?

Tostmann: Nein, ich liege ja kaum auf dem Sofa! (großes Gelächter)

Charles und Olukemi: Wir machen auch nicht nur Mode. Wir schreiben Gedichte, drehen Videos, im Moment stellen wir im Weltmuseum in der Ausstellung Unlearning Racism aus.

Tostmann: Gehen wir doch gemeinsam in die Ausstellung – und dann zu Tostmann! (Anne Feldkamp, RONDO exklusiv, 19.12.2021)