Ich habe Noelle über eine Dating-Website kennengelernt. Eine der unseriösen Plattformen, wo man pro verschickter Nachricht zehn Cent zahlen muss. Die Kunden der Plattform sind allesamt vereinsamte Männer und alleinerziehende Mütter jenseits der Mittvierziger, sozial verwahrloste Menschen, die so verkrampft versuchen, jemanden kennenzulernen, dass sie ihre Verzweiflung wie ein neonfarbenes Warnschild vor sich hertragen.

Malerei: Debora Koo ("Only a Woman Knows", Oil on Canvas, 2019), www.debkoo.com
Malerei: Debora Koo

Ich hatte meinen Job als Kellnerin gekündigt, weil ich die Menschen zunehmend weniger ertragen hatte. Die Kunden und Kundinnen sowieso, aber noch viel weniger meine Kollegen und Kolleginnen. Sie wollten sich mit mir kurzschließen, mit mir verbünden, gegen den Besoffenen, gegen den Burschenschaftler, gegen die verrückte Zigarettenschnorrerin, sie wollten sich von mir Bestätigung holen, dass ihre Abneigung gerechtfertigt ist. Ihre Abneigung gegenüber den Besoffenen, den Burschenschaftlern, den verrückten Zigarettenschnorrerinnen, als würden sie sich diese Abneigung nicht allein zutrauen. Ich habe keine Abneigung gegenüber irgendjemandem in der Arbeit gehabt. Mir waren nur alle egal. Und das haben sie nicht ertragen. Und dass sie das nicht ertragen haben, habe ich wiederum nicht ertragen.

An die Plattform binden

Ich muss deshalb vorschießen, dass ich mich nicht auf der Plattform angemeldet habe, um Menschen kennenzulernen. Im Gegenteil versuche ich seit jeher, mit jeder meiner Entscheidungen zu vermeiden, Menschen kennenzulernen.

Ich habe mich nicht auf der Plattform angemeldet, um dort zehn Cent pro gesendeter Nachricht auszugeben, sondern um fünf Cent pro empfangener Nachricht zu erhalten. Ich war IKM-Schreiberin. Internet-Kontakt-Markt-Schreiben, das bedeutet, sich mit anderen Menschen unterhalten, um sie möglichst lange an die Plattform zu binden. Je mehr Menschen das Gefühl bekommen, sie würden mit einer echten Person eine emotionale Bindung eingehen, desto mehr schreiben sie. Und je mehr sie schreiben, desto mehr Geld geben sie aus.

Meine Aufgabe als fix angestellte IKM-Autorin war es, fremden Menschen glaubhaft zu vermitteln, dass ich mich langsam in sie verliebte. All die einsamen Männer, all die alleinstehenden Frauen, alt, jung, dünn, dick, hässlich, schön, manisch, depressiv, interessant, langweilig, es machte keinen Unterschied, ich verliebte mich in alle. Sie alle waren bildhübsch. Sie alle hatten einen Humor, der genau meinem Humor entsprach. Sie alle waren der interessanteste Mensch, den ich jemals getroffen hatte. Sie alle begeisterten sich für exakt die Bücher, Filme und Platten, für die auch ich mich begeisterte.

Malerei: Debora Koo ("Box of Chocolates", Oil on Canvas, 2019) www.debkoo.com
Malerei: Debora Koo

Dabei musste ich zu eindeutige Kontaktversuche immer subtil ablehnen, um nicht mit meiner echten Telefonnummer oder Adresse rauszurücken. Die von mir verschickten Fotos entnahm ich einem Fundus an Stockfotos von Models, meistens ohne das Gesicht zu zeigen. Einmal habe ich einen Nachmittag lang versucht, die Frau hinter dem Stockfoto zu suchen, das ich am häufigsten verwendete. Sie hieß Tatjana und wohnte in der Ukraine. Ich weiß genauso wenig über sie, wie meine Chatpartner über mich wissen.

Ausbeuterische Arbeit

IKM-Schreiben ist eine furchtbare, emotional belastende und ausbeuterische Arbeit. Man sieht dabei zu, wie Menschen ihre gesamten Gefühlsdepots in einen investieren, in die Vorstellung einer Person, in einen Schwall überschwänglicher Textnachrichten mit dem Foto einer kopflosen Tatjana darüber. Wahrscheinlich hängt ein Foto von Tatjana über ihren Betten, dachte ich. Wahrscheinlich wichsen sie auf ein kopfloses Foto von Tatjana und stöhnen dabei einen der hundert Namen, die ich mir gegeben habe. Sie tragen Tatjanas Foto in einer kleinen Metallschatulle in Herzform um den Hals und hängen es an den Rückspiegel ihres Gebrauchtwagens und über das Mobile ihres Säuglings. Schau, Kleines, das ist deine neue Mami, bald wirst du sie kennenlernen, sicher ganz bald, wir treffen uns bald, das verspreche ich dir, aber diese Woche geht es sich leider nicht mehr aus, diese Woche wird bei mir knapp, diese Woche bin ich schon im Urlaub, diese Woche muss ich noch viel zu viel arbeiten, wie wär’s mit nächster Woche, geht es bei dir nächste Woche, nächste Woche, immer ist es die nächste Woche.

Nächste Woche habe ich zweihundert Dates. Nächste Woche fahre ich mit 50 verzweifelten Menschen nach Buenos Aires und Okinawa. Nächste Woche heirate ich vier vereinsamte Männer, eine nichtbinäre Person und eine Frau knapp vorm Suizid. Nächste Woche. Die Enttäuschung der Menschen ist kaum zu ertragen, wenn sie nach und nach einsehen, dass aus der ganzen Sache nichts wird. Ein angeschossenes Reh, dem man ins Ohr flüstert: Alles wird gut, nächsten Samstag hol ich die Kugel aus deinem Herz. Nächsten Samstag.

Malerei: Debora Koo ("Boston", Oil on Canvas, 2020), www.debkoo.com
Malerei: Debora Koo

Sehnsucht

Noelle war der erste Mann, der mir schrieb, ohne mich um meine Adresse zu bitten. Er bat mich nicht um meine Telefonnummer oder ein Foto von den Schultern aufwärts. Er war der Erste, der sich für mich ausschließlich als textgenerierendes Medium interessierte. Wir schrieben einige Wochen lang, bevor es ernster wurde. Ich schrieb ihm, dass ich mich langsam in ihn verliebte, wie ich es tausende Male geschrieben hatte. Er schrieb mir, dass er sich langsam in mich verliebte, wie ich es tausende Male gehört hatte. Ich schrieb ihm, dass mich die Sehnsucht nach ihm in den Wahnsinn treibe. Er schrieb mir, dass er jetzt gerne bei mir in der Badewanne mit Kerzenlicht und Rotwein säße. Ich schrieb ihm, dass mich allein der Gedanke an seine festen, starken Hände ganz wild machen würde. Er schrieb mir, dass ihm bei meinem roten Kleid schwindelig würde, so aufgeregt sei er, mich endlich in echt darin sehen zu können. Ich schrieb ihm, dass ich mich wahnsinnig gern mit ihm treffen würde, so bald wie möglich, ich wolle ihn unbedingt kennenlernen, ich wolle ihn endlich in meine Arme schließen, ja, mich von ihm in sein Schlafzimmer tragen lassen, mit ihm nach Helsinki fahren, nach Sydney, nach Reykjavík, doch noch bevor ich hinzufügen konnte, dass es sich bei mir diese Woche leider nicht mehr ausgehen würde, schrieb er mir: "Wie wär’s mit nächster Woche?" Und da wusste ich es. Ein Mann, der sich mit jeder Faser seines Körpers nach mir verzehrte, der mir am liebsten sofort die Kleidung vom Leib reißen wollen würde, der mich auf der Stelle heiraten wollte, genau dieser Mann, der mir mit jeder seiner Zehn-Cent-Nachrichten vermittelte, dass er unmöglich noch eine Sekunde länger darauf warten könne, mich inniglich und leidenschaftlich zu lieben, schrieb mir: "Wie wär’s mit nächster Woche?", so als hätte er es plötzlich nicht mehr eilig.

Vier Jahre lang

Da wusste ich, dass Noelle ebenfalls als IKM-Autor angestellt war. Plötzlich machte alles Sinn: warum er mich nicht nach meiner privaten Telefonnummer gebeten hatte, warum er keine Fotos von mir wollte, keine Adresse, und mir ebenfalls keine ungefragten Fotos und privaten Informationen schickte. Weil wir beide Angestellte waren, die ihre Arbeit gut und professionell erledigten. Weil es unsere Aufgabe war, uns gegenseitig bei der Stange zu halten, ohne uns selbst zu verraten.

Das durfte eigentlich nicht vorkommen. Die Firma hatte uns falsch verknüpft und für jede Nachricht, die wir uns nun gegenseitig schrieben, bekamen wir jeweils fünf Cent ausbezahlt, ohne dass jemand von uns zehn Cent dafür zahlen musste. Wir spielten dieses Spiel vier Jahre lang. Vier Jahre lang zahlten wir unsere Wohnungen davon, dass wir miteinander schrieben. Nach einem Jahr zogen wir in eine gemeinsame Wohnung. Wir sprachen fast nichts miteinander, aber jedes Mal, wenn wir Geld für einen Urlaub brauchten, schrieben wir mehr als üblich. Es war keine Zweckbeziehung, sagte ich mir. Ich liebte ihn wirklich. Ich fand ihn wirklich bildhübsch. Er hatte einen Humor, der genau meinem Humor entsprach. Er war der interessanteste Mensch, den ich jemals getroffen hatte. Er begeisterte sich für exakt die Bücher, Filme und Platten, für die auch ich mich begeisterte. An unseren Wänden hingen Fotos von kopflosen Stockfotomodells. In unseren Geldtaschen trugen wir Passbilder von kopflosen Stockfotomodells. An unserem Kühlschrank hingen Fotos von kopflosen Stockfotomodells am Strand, kopflosen Stockfotomodells in der Kneipe, kopflosen Stockfotomodells in der Retro-Fotokabine, wie sie sich küssten (vermutlich). Unsere Kinder würden Stockfotomodells ohne Kopf sein. Unsere Enkelkinder würden Stockfotomodells ohne Kopf sein.

Mitarbeiter und Mitarbeiterin des Monats

Wenn wir uns stritten, trennten wir uns immer für ein paar Tage, manchmal zwei, drei Wochen und schrieben einfach nur miteinander, ohne uns gegenseitig zu fragen, wo und mit wem wir gerade waren. Ich lernte seine Eltern und Freunde kennen. Er lernte meine Eltern und Freunde kennen. Seine Eltern waren Stockfotomodells ohne Kopf. Meine Eltern waren Stockfotomodells ohne Kopf. Seine Freunde waren unkenntlich gemachte Partyfotos einer Eventagentur. Meine Freunde waren unkenntlich gemachte Partyfotos einer Eventagentur.

Ich markierte ihn unter lustigen Memes auf lustigen Facebook-Pages. Er markierte mich unter lustigen Memes auf lustigen Instagram-Pages. Er schickte mir eine selbstgemachte Spotify-Playlist mit den greatest Hits der 2000er. Ich stellte ihm eine Netflix-Watchlist mit seinen Top-Ten-Lieblingsfilmen zusammen: Fight Club, Fight Club, Fight Club, Fight Club, Fight Club, Fight Club, Fight Club, Oldboy, Pulp Fiction und Fight Club.

Der Wiener Elias Hirschl (27) ist Musiker, Poetry-Slammer und Autor. Aufsehen erregte er mit dem 2021 erschienenen Buch "Salonfähig", das als Schlüsselroman der Ära Sebastian Kurz gilt.
Foto: Benedict Steyrer

Beim Sex riefen wir irgendwelche Namen, die uns gerade einfielen. Zum Geburtstag schenkte er mir ein Buch von einer Autorin, die ich einmal erwähnt und von der er mir letztes Jahr bereits ein anderes Buch geschenkt hatte, und ich schenkte ihm eine Vinylschallplatte mit dem Soundtrack von Pulp Fiction. Zu Weihnachten schenkten wir uns nichts und fanden das edgy und cool.

Jedes Silvester feierten wir an zwei getrennten Orten und schrieben uns, wie schade es war, dass wir uns jetzt nicht küssen konnten. Vier Jahre lang hielten wir uns bei der Stange, ohne zu viel von uns preiszugeben. Mitarbeiter und Mitarbeiterin des Monats – 48 Monate in Folge.

Als der Firma ihr Fehler auffiel, trennten wir uns. Ich musste kein einziges Foto löschen. (Elias Hirschl Malerei: Debora Koo, RONDO exklusiv, 6.1.2022)