Dieser Lockdown fühlt sich anders an als der erste seiner Art im vorigen Jahr. Damals lag der Fokus auf dem Prinzip der Solidarität und dem Geist von "Wir schaffen das". Heute überwiegt, selbst bei den Befürwortern von Impfung, Einschränkungen und Vorsicht, eine Stimmung der Resignation und des allgemeinen Grants. Und zwischen Geimpften und Ungeimpften herrscht mittlerweile ein erbitterter Glaubenskrieg.

Anti-Maßnahmen-Demonstration im Wien.
Foto: imago images/SKATA

Es lohnt, sich an jene Tage im Frühling 2020 zu erinnern. Menschen, die von ihren Fenstern und Balkonen aus jenen applaudierten, die im Lockdown unter schwierigen Bedingungen den Betrieb in Spitälern und anderswo aufrechterhielten. Zettel im Stiegenhaus, die betagten Nachbarn Hilfe bei Einkäufen und Besorgungen anboten. Vielerlei Initiativen und Telefonangebote für Einsame, Verängstigte, vom Virus Betroffene. Und auch Versuche gab es, aus der Krise eine Chance zu machen. Die Wohnung von überflüssigen Besitztümern befreien. Wieder dicke Bücher lesen. Kochen. Sich mehr um die Kinder kümmern. Vielleicht sogar "innere Einkehr halten" und sich aufs Wesentliche im Leben besinnen.

Nichts davon heute. Ziemlich fassungslos hat ein Teil der Wiener am letzten Wochenende den Riesenzug der Anti-Maßnahmen-Demonstranten durch die Innenstadt beobachtet. Gelbe Davidsterne mit der Aufschrift "Ungeimpft" (Wir sind die neuen Juden). Plakate mit "Plandemie" (Die Pandemie wurde bewusst geplant). "Regierung = Verbrecher". Ein übriggebliebenes Plakat vom letzten Mal: "Kurz muss weg". Bilder von Anne Frank (Wir sind der neue Widerstand). Bilder von George Soros (der heimliche Planer der Seuche).

Unverhohlenes Nazitum

Sprechchöre: "Lügenpresse". Einer spricht das Vaterunser. Bundesdeutsche Akzente, westösterreichische Akzente. Ein Aluhut im Pickelhauben-Look. Ein Rübezahl-Hut. Ein Jesusbild. Ein Regenschirm, der gegen die schädlichen Einflüsse des Polizeihubschraubers schützen soll, der über dem Ganzen kreist.

Der staunende Beobachter gewinnt den Eindruck: Das ist ein schwer entwirrbares Konglomerat, an deren einem Ende unverhohlenes Nazitum steht und am anderen Ende unverhohlene Blödheit und dazwischen alle möglichen anderen Motivationen, manche harmlos, andere weniger harmlos. Auf jeden Fall ein Zeichen der Ratlosigkeit, der Verwirrung, des Protests um jeden Preis, der verzweifelt nach Sündenböcken sucht.

Gibt es in dem allgemeinen Schlamassel auch irgendwelche positiven Elemente? Zunächst einmal der im Großen und Ganzen immer noch friedliche Charakter der Demonstrationen – wenn man von dem wirklich unverzeihlichen Angriff auf ein Spital und die dort tätigen Ärzte absieht. Vor allem aber stimmt der Schulterschluss der Regierung, der Länder und der sozialdemokratischen Opposition im gemeinsamen Bemühen um eine einheitliche Corona-Strategie zuversichtlich, wie immer man deren Meriten einschätzen mag. Der Appell des Bundespräsidenten, auf die Lösung zu schauen und mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen aufzuhören, hat offensichtlich gewirkt. Freilich, demnächst droht die nächste große Herausforderung: die Impfpflicht. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 25.11.2021)