Polens Justizminister Zbigniew Ziobro stellt einen weiteren Teil des europäischen Rechtssystems infrage.

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"Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten … oder über eine gegen sie erhobene Klage vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren … verhandelt wird", heißt es in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sie verpflichtet 47 Staaten des Europarates, darunter auch Polen, das die Konvention im Jahre 1993 ratifizierte. Doch plötzlich stellte Polens Generalstaatsanwalt und Justizminister Zbigniew Ziobro die Vereinbarkeit der Menschenrechtskonvention mit der polnischen Verfassung in Frage.

Am Mittwoche urteilte das von der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) kontrollierte polnische Verfassungsgericht, dass Polens Verfassungsgericht kein "Gericht" im Sinne der Menschenrechtskonvention sei. Somit muss Polen ein bestimmtes Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes (EGMR) mit Sitz in Straßburg nicht umsetzen.

Europäisches Recht unter Beschuss

Ähnliches hatte das Polnische Verfassungsgericht vor wenigen Wochen schon zur vollen Zufriedenheit von PiS-Premier Mateusz Morawiecki erledigt. Dieser war der Ansicht, dass drei grundlegende Artikel der Europäischen Verträge, die der EU zugrundeliegen, verfassungswidrig seien. Polens Verfassungsgericht stellte wunschgemäß fest, dass Polens Regierung keine Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Luxemburg umsetzen müsse, wenn dieses sich auf diese drei Artikel berufe und sie zu Ungunsten der Souveränität Polens interpretiere. Damit nämlich überschreite der EuGH seine Kompetenzen.

Im konkreten Fall geht es um das Xero Flor-Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes vom 7. Mai 2021. Die Firma Xero Flor hatte beanstandet, dass ihre Klage nicht – wie in Artikel 6 der Menschenrechtskonvention gefordert – von einem "unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren … verhandelt" wurde. Der EMRG gab dem Kläger Recht und sprach ihm eine Entschädigung zu. Denn das polnische Verfassungsgericht hatte es nicht nur abgelehnt, sich seines Falles anzunehmen, vielmehr war unter den Richtern, die die Ablehnung unterschrieben hatten, ein illegal von Präsident Duda ernannter Richter, einer von insgesamt drei sogenannten Doubles.

Der Menschenrechtsgerichtshof machte klar, dass alle Urteile des polnischen Verfassungsgerichts ungültig seien, an denen auch nur einer der "drei Doubles" beteiligt sei. Denn die drei Richterstellen seien schon vom Vorgänger-Parlament rechtmäßig besetzt worden. Die Zusammensetzung des aktuellen Verfassungsgerichts Polen sei nicht nur mit der Verfassung Polens unvereinbar, sondern auch mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Unrechtmäßiges Urteil

Schon einen Tag nach diesem Urteil behauptete Julia Przylebska, die Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts in Warschau, dass das Urteil aus Straßburg "unrechtmäßig" sei, "keinerlei rechtliche Folgen in der polnischen Rechtsordnung" nach sich ziehe und überhaupt "gar nicht existiert". Polens Generalstaatsanwalt Ziobro war anderer Ansicht als Przylebska und befürchtete gar eine "normative Neuheit", die das Urteil ins polnische Rechtsystem einführe. Das Verfassungsgericht, so Ziobro, sei nämlich gar kein Gericht im Sinne von Artikel 6 der Menschenrechtskonvention, das die Kriterien "unabhängig und unparteiisch" erfüllen müsse. Es stehe als "trybunal" über den normalen Gerichten.

Przylebska bestätigte in ihrer Urteilsbegründung die Ansicht des Generalstaatsanwalts. Zudem habe der Menschenrechtsgerichtshof keine Kompetenz über die Wahl der Richter zu urteilen. Dies falle in die alleinige Zusändigkeit des souveränen Staates Polen. Für den Jura-Professor Wojciech Sadurski ist Ziobros die Definition des polnischen Verfassungsgerichts als Nicht-Gericht im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention so kurios, dass er empfiehlt, sie den Antrag in die Jura-Lehrbücher aufzunehmen – zum Amüsement künftiger Richterinnen und Richter. (Gabriele Lesser aus Warschau, 24.11.2021)