Foto: APA/AFP/CACACE
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Weltmeister Magnus Carlsen (rechts) spielt sein fünftes WM-Turnier. Jan Alexandrowitsch Nepomnjaschtschi greift erstmals nach dem Titel.

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Magnus Carlsen mangelt es nicht an Selbstbewusstsein. Als der Schachweltmeister kürzlich gefragt wurde, ob seine überlegene Erfahrung mit WM-Matches sein größter Vorteil gegenüber Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi sei, antwortete er trocken: "Nein. Mein größter Vorteil ist, dass ich besser im Schach bin." Das ist schwer anfechtbar. 2855 Elo bringt Carlsen als Führender der Liste derzeit auf die Waage, bei Herausforderer Nepomnjaschtschi sind es 2782. Damit liegt er nur auf Rang fünf der Weltrangliste.

Dass Nepomnjaschtschi, der einer jüdischen Familie aus Brjansk entstammt, dennoch den seit acht Jahren regierenden Weltmeister aus Tonsberg herausfordern darf, hat er seinem Auftritt beim Kandidatenturnier in Jekaterinburg zu verdanken. Dort zeigte der 31-Jährige, dass er die Schwächen, die ihn so lange an der Ausschöpfung seines unbestritten riesigen Potenzials gehindert hatten, überwunden haben dürfte.

Der als schlampiges Genie verschriene Nepomnjaschtschi, den alle "Nepo" nennen, lieferte eine durch und durch professionelle Vorstellung ab. Am Ende setzte er sich im April im wegen Covid mehr als ein Jahr unterbrochenen Turnier mit achteinhalb Punkten aus 14 Partien überzeugend durch. Höher gehandelte Kandidaten wie der Italoamerikaner Fabiano Caruana, Carlsens Herausforderer bei der WM 2018 in London, oder Ding Liren, die chinesische Nummer eins, gingen diesmal leer aus.

Wie das Kandidatenturnier am Ural, so wird auch der WM-Zweikampf im klassischen Schach, der am Freitagnachmittag in den Vereinigten Arabischen Emiraten beginnt, über 14 Runden ausgespielt.

Unter aller Augen

Für den Herausforderer dürfte es dennoch mehr als nur eine klimatische Umstellung werden. Eine WM hat ihre eigene, für die Spieler manchmal beklemmende Atmosphäre. Über drei Wochen schaut die Schachwelt einzig und allein den beiden Gladiatoren auf die Finger, die sich in der wohlklimatisierten Halle der Expo Dubai ausmachen, wer sich Mitte Dezember Schachweltmeister nennen darf. Jede Regung wird registriert, jedes Statement bei den Pressekonferenzen auf seine Bedeutung für den Ausgang des Matches hin analysiert.

Aber ist der 30-jährige Weltmeister, der die Schachwelt seit mehr als einem Jahrzehnt dominiert und in Dubai schon seine fünfte WM absolviert, für Nepo überhaupt zu biegen? Die Experten sind uneinig. Manche sehen Carlsen klar vorne, andere verweisen darauf, dass seine beiden letzten Titelverteidigungen alles andere als glanzvoll verliefen – beide Male benötigte der Champion das bei einem Gleichstand vorgesehene Schnellschach-Tiebreak. Allerdings gewann er da 2016 gegen den Russen Sergei Karjakin und zwei Jahre später gegen Caruana souverän.

Großmeister wagen einen Ausblick und nennen ihren Favoriten.
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Fast alle stimmen darin überein, dass Nepos Stil dem Weltmeister nicht unbedingt liegt. Carlsen liebt klar strukturierte, technische Stellungen, in denen er sein überlegenes Positionsverständnis ausspielen kann. Nepomnjaschtschi dagegen bevorzugt irrationale taktische Verwicklungen. Sein Idol heißt Michail Tal. Der "Hexenmeister aus Riga" war Anfang der 1960er-Jahre kurzzeitig Weltmeister und lehrte seine Gegner mit unvorhersehbaren Figurenopfern das Fürchten.

Die bisherige Bilanz der beiden unterstreicht die Schwierigkeiten, die Carlsen mit seinem Gegner haben könnte. Vier Siegen für Nepo in klassischen Partien steht nur ein einziger Sieg Carlsens bei sechs Remis gegenüber.

Wege zum Ruhm

Manche der Siege Nepomnjaschtschis liegen allerdings länger zurück. Bei der U12-EM und -WM 2002 schnappte er Carlsen jeweils den Titel weg, beide Buben wurden damals bereits als künftige Weltmeister gehandelt. Während Carlsen bereits mit 19 Jahren die Weltrangliste anführte, lief es bei Nepomnjaschtschi lange nicht rund. Zu perfektionistisch sei er gewesen, jede Partie habe er gewinnen wollen, sagen seine Trainer von damals. Dann kam dem vielseitig Interessierten auch noch eine Nebenkarriere als E-Sportler im Spiel Defense of the Ancients dazwischen. Erst 2019, mit 29 Jahren, schaffte Nepo den Sprung in die Top Ten. Seither steigert er sich kontinuierlich.

Um den letzten Schritt zu tun, muss Nepomnjaschtschi an Carlsen vorbei. In puncto Selbstbewusstsein ist er mit dem Weltmeister schon auf Augenhöhe. Auf die Frage, welcher seiner Siege über Carlsen sein liebster sei, antwortete der Herausforderer: "Ich denke, der liegt irgendwo in der Zukunft." (Anatol Vitouch, 25.11.2021)