Schematische Darstellung eines Spike-Proteins mit den Mutationen (rot) der Alpha-Variante B.1.1.7. Die neue südafrikanische Variante B.1.1.539 weist über 30 solcher Mutationen auf.

APA / Roland Schlager

In den letzten Monaten war es verhältnismäßig ruhig um neue Sars-CoV-2-Varianten. Das lag daran, dass Delta seit dem Sommer die Welt eroberte und nun für die Verschärfung der Pandemiesituation in Europa sorgt. Aufgrund seiner extrem hohen Infektiosität hat Delta alle anderen Mutanten verdrängt oder ausgeschaltet, noch bevor diese sich verbreiten konnten. Deshalb wurde auch schon spekuliert, ob Delta die letzte Supervariante sein könnte.

Doch seit wenigen Tagen blicken Experten wie der Genetiker Ulrich Elling (IMBA Wien) besorgt nach Südafrika – als ob die Situation in Europa und in Österreich nicht schon schlimm genug wäre. In Südafrika beginnt gerade der Sommer, und die Infektionszahlen müssten eigentlich gering bleiben. Dennoch stiegen zuletzt in der Provinz Gauteng (im Wesentlichen Johannesburg und Pretoria) die Inzidenzen – wenn auch noch auf sehr niedrigem Niveau – relativ stark an, nämlich auf etwas über 1.000.

Der rezente Anstieg der Infektionszahlen in der Provinz Gauteng (roter Pfeil) sieht auf den ersten Blick harmlos aus. Womöglich steckt die neue Variante B.1.1.529 dahinter. Es könnte sich aber auch um eine zufällige Häufung handeln, was zu hoffen wäre.
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32 Mutationen im Spike-Protein

Das klingt nach wenig, dürfte aber an einer neuen Variante liegen, die bis jetzt nur B.1.1.529 heißt und nicht weniger als 32 Mutationen im Spike-Protein aufweist. Das ist jener Teil des Virus, den die meisten Impfstoffe verwenden, um das Immunsystem gegen Covid zu aktivieren. (Zum Vergleich: Bei Delta sind es nur acht Mutationen; die bloße Zahl sagt freilich wenig über die Eigenschaften aus.)

Diese große Zahl an Mutationen macht auch Elling Sorgen, wie er am Mittwoch auf Twitter mitteilte. Und der Sequenzier-Experte ist alles andere als ein Varianten-Panikmacher: Auch im STANDARD hat er neue Varianten immer wieder schon sehr früh richtig auf ihr Gefahrenpotenzial eingeschätzt, von Alpha über Delta bis Delta plus. Am Donnerstag legte er eine Darstellung des Spike-Proteins mit den 32 Veränderungen vor, die darauf hindeuten, dass B.1.1.529 unangenehme neue Eigenschaften besitzen könnte, weil die Mutationen das Spike-Protein "komplett verändern" würden:

Tom Peacock, Virologe am Imperial College London, veröffentlichte bereits am Mittwoch Einzelheiten über die neue Variante auf Github.com sowie in einer Reihe von Nachrichten auf Twitter. Aufgrund der besorgniserregenden Mutationen im Spike-Profil sollte diese Variante "sehr, sehr genau beobachtet werden", verlangt Peacock.

Er hofft aber, dass es sich beim Anstieg der Inzidenzen um einen zufälligen Cluster an Infektionsfällen handeln könnte. Anders gesagt: dass die Variante doch nicht so stark übertragbar ist und dass sie den Immunisierungen durch Infektion oder Impfung doch nicht so gut entgeht, wie manche befürchten.

Erste Fälle in Botswana und Südafrika

Die ersten Fälle der Variante wurden am 11. November in Botswana registriert, der früheste Fall in Südafrika folgte drei Tage später. Bei dem in Hongkong gefundenen Fall handelte es sich um einen 36-jährigen Mann, der vor seinem Flug von Hongkong nach Südafrika, wo er sich vom 22. Oktober bis zum 11. November aufhielt, einen negativen PCR-Test gemacht hatte. Bei seiner Rückkehr nach Hongkong war der Test negativ, während er am 13. November in der Quarantäne positiv getestet wurde.

Die neuesten Daten, die am Donnerstagmittag bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Gesundheitsminister live und online präsentiert wurden, tragen nicht wirklich zur Entwarnung bei, eher im Gegenteil.

Die Diskussion der neuen Variante findet vor allem ab Minute 23:00 statt.
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Der südafrikanische Experte Tulio de Oliveira (Universität Stellenbosch) berichtete von mittlerweile 77 Fällen von B.1.1.529, die über Gauteng hinausgehen. Die Variante sei praktisch in allen Provinzen zu finden. Eine halbwegs gute Nachricht ist immerhin, dass es wegen der speziellen Mutationen von B.1.1.529 keine Sequenzierung braucht, um die Variante zu identifizieren, sondern normale PCR-Tests reichen. Das macht es leichter, ihre Verbreitung zeitnah nachzuverfolgen und so möglichst schnell ihre Infektiosität und Aggressivität zu analysieren, was aber dennoch wohl noch einige Tage, eher Wochen dauern wird.

Die renommierte deutsch-britische Forscherin Christina Pagel vom University College London war nach den Präsentationen bei der Pressekonferenz in Südafrika einigermaßen besorgt und fasste den Wissensstand in einem langen Thead auf Twitter noch einmal zusammen – inklusive jener Aspekte, die für die meiste Beunruhigung sorgen: die aufgrund der bisherigen Indizien vermutlich hohe Infektiosität und die mögliche Immunevasion.

Bereits am Mittwoch erklärte Ravi Gupta, Professor für klinische Mikrobiologie an der Universität Cambridge, dass zwei der Mutationen bei B.1.1.529 nach ersten Laboranalysen die Infektiosität erhöhen und die Antikörpererkennung verringern. "Die vorhandenen Mutationen geben Anlass zu großer Sorge", sagte er. Entscheidend sei aber, wie infektiös die neue Variante tatsächlich ist und ob sie insbesondere Delta übertrifft.

Womöglich bei HIV/Aids-Patienten entstanden

Francois Balloux, der Direktor des Instituts für Genetik am University College London, sagte am Mittwoch dem Science Centre London, dass die neue Variante eine große Anzahl von Mutationen offenbar in einem einzigen Schub angehäuft habe. Das würde darauf hindeuten, dass sie sich während einer chronischen Infektion bei einer Person mit einem geschwächten Immunsystem entwickelt haben könnte, möglicherweise einem unbehandelten HIV/Aids-Patienten.

Balloux erwartet aufgrund der Mutationen, dass diese neue Variante im Vergleich zu Alpha oder Delta von neutralisierenden Antikörpern deutlich schlechter erkannt wird. Er fügte aber auch hinzu: "Zum jetzigen Zeitpunkt sind Vorhersagen schwierig, wie übertragbar die Variante sein könnte." Besorgnis sei aber erst geboten, wenn die Infektionsfälle in der Region um Johannesburg weiter stark ansteigen sollten. Das scheint leider das Fall zu sein.

Am Freitag wird deshalb auch die WHO eine internationale Expertenrunde einladen, um die Lage im Südafrika zu evaluieren und der Variante vermutlich einen griechischen Namen zu geben. Letzteres würde bedeuten, dass sie besorgniserregend oder zumindest "von Interesse" ist.

Erste Reaktionen im Flugverkehr

Großbritannien reagierte jedenfalls bereits am Donnerstagabend: Der Flugverkehr aus Südafrika, Namibia, Lesotho, Botsuana, Eswatini und Zimbabwe soll von Freitagmittag an eingestellt werden. Von Sonntag an gilt für britische Rückkehrer eine Pflicht zur Hotelquarantäne.

Auch Israel hat für diese sechs Länder sowie Simbabwe sofortige Reisebeschränkungen verhängt. Ausländer dürften aus diesen Ländern nicht mehr nach Israel einreisen, heißt es aus dem Büro des israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett. Israelis, die aus diesen Ländern zurückkehrten, müssten für bis zu 14 Tage in Quarantäne in ein Corona-Hotel. Nach einer Woche könnten sie sich jedoch mit zwei negativen PCR-Tests freitesten. (Klaus Taschwer, 24.11.2021)

Anm. der Red.: Der Text wurde um 13:40 um neue Informationen aus der Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Gesundheitsminister ergänzt.

Der Text wurde um 23:38 Uhr mit den Reisebeschränkungen aktualisiert.