Ein Rettungsboot wird im Ärmelkanal von der Royal National Lifeboat Institution an die englische Küste gebracht.

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Calais – Nach dem Untergang eines Migrantenboots im Ärmelkanal mit mindestens 27 Todesopfern haben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premierminister Boris Johnson über Schritte zur Verhinderung solcher Dramen beraten. Sie hätten sich auf mehr Anstrengungen verständigt, Schlepperbanden zu stoppen, die das Leben von Menschen in Gefahr bringen, teilte Großbritannien nach dem Telefonat am Mittwochabend mit.

Der Vorfall zeige, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen, um Migranten von der Überfahrt abzuhalten, sagte Johnson. Beide betonten die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit mit Belgien, den Niederlanden und anderen Partnern auf dem Kontinent. Macron äußerte nach französischen Angaben die Erwartung, dass die Briten zu Zusammenarbeit bereit seien und das Flüchtlingsdrama nicht zu politischen Zwecken instrumentalisieren.

Der britische Innenstaatssekretär Kevin Foster sagte am Donnerstag der BBC, die Regierung sei entschlossen, das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler zu zerstören. Das sei nicht allein Aufgabe Frankreichs. Vielmehr sei ein gemeinsamer europäischer Ansatz nötig. "Wir sind bereit, Unterstützung auf dem Boden zu bieten. Wir sind bereit, Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Wir sind bereit, Personal zu schicken und den französischen Behörden zu helfen", sagte Foster.

Großbritannien hat Frankreich wiederholt vorgeworfen, zu wenig zu tun, um die Überfahrten zu verhindern. In diesem Jahr sind bereits etwa 26.000 Migranten aus Frankreich an der englischen Küste angekommen – dreimal so viel wie im gesamten Vorjahr.

"Mit Mord davonkommen"

Am Mittwoch war ein Boot mit 27 Migranten, die illegal nach Großbritannien einreisen wollten, im Ärmelkanal gekentert. Zunächst hatten die französischen Behörden von 31 Toten, darunter fünf Frauen und ein Mädchen, berichtet. Später korrigierte das Innenministerium die Zahl auf 27. Eine Ministeriumssprecherin verwies am Donnerstag darauf, dass dies eine vorläufige Bilanz sei. Wie viele Menschen insgesamt mit dem Boot im Ärmelkanal unterwegs waren, lasse sich noch nicht sagen.

Vier mutmaßliche Schlepper wurden festgenommen. Nach französischen Angaben war es der bisher schlimmste Vorfall mit Migranten in der Meeresenge. Innenminister Gérald Darmanin sagte, das gebrechliche Schlauchboot ähnle eher einem aufblasbaren Swimmingpool für den Garten. Der Ärmelkanal zwischen Dover und Calais gilt als die verkehrsreichste Schifffahrtsstraße der Welt.

Kampf gegen Schleuser

"Dies zeigt, dass die Banden, die Menschen in diesen gefährlichen Gefährten aufs Meer schicken, sich von nichts stoppen lassen", sagte der britische Premier Johnson. Er bot an, die französischen Beamten bei den Kontrollen am Kanal zu unterstützen. Auch Darmanin pochte auf ein härteres Vorgehen gegen die Schleuser, die er mit Terroristen und Drogenbossen verglich. "Das ist ein internationales Problem", sagte er. "Die Antwort muss auch aus Großbritannien kommen, wir müssen gemeinsam gegen Schleuser kämpfen." Nötig sei ein koordiniertes Vorgehen auch unter Einbindung von Belgien, den Niederlanden und Deutschland.

Macron verwies auf die gemeinsamen Anstrengungen mit Großbritannien, seit Jahresbeginn seien an der französischen Küste bereits 1.552 Schleuser festgenommen und 44 Schleusernetzwerke zerschlagen worden. "Wenn wir nicht sofort unsere Anstrengungen verstärken, werden sich weitere Tragödien wiederholen."

In diesem Jahr haben mehr als 25.700 Menschen illegal den Ärmelkanal überquert. Das sind mehr als dreimal so viele wie im gesamten Jahr 2020. Erst im Juli hatten London und Paris ein neues Kooperationsabkommen vereinbart, um die wachsende Zahl der Migranten, die mit kleinen Booten über den Ärmelkanal nach England kommen, in den Griff zu bekommen. London sagte dabei 62,7 Millionen Euro zu, um die französischen Behörden zu unterstützen.

Scharfe Zuwanderungsregeln

Kritik schlug Johnson aber auch im eigenen Land entgegen. Die menschenfeindliche Politik seiner konservativen Regierung sei für die Tragödie verantwortlich, betonten mehrere Politiker der oppositionellen Labour-Partei am Mittwochabend. Anstelle scharfer Asylgesetze müsse die Regierung humane und sichere Wege nach Großbritannien bieten.

Vor allem Innenministerin Priti Patel steht wegen der wachsenden Zahl an Migranten unter Druck. Konservative Kreise und Medien sprechen von einer "Krise". Allerdings ist die Zahl der Flüchtlinge, die in Großbritannien Asyl beantragen, deutlich niedriger als in anderen europäischen Ländern. Patel hatte angekündigt, die Überfahrten zu beenden. Nach dem Brexit führte die Regierung scharfe Zuwanderungsregeln ein. Noch aber hat Patel kein Mittel gefunden, um die Migration über den Ärmelkanal zu stoppen. Zuletzt kündigte sie erneut eine Verschärfung der Asylregeln an.

Am Mittwoch war das Wasser im Ärmelkanal recht ruhig, auch deshalb wagten nach Ansicht von Experten viele Migranten die Überfahrt. Laut Darmanian haben 255 Menschen England erreicht, 671 seien in Frankreich gestoppt worden. Dort seien 580 Polizisten an der Küste im Einsatz gewesen. (APA, red, 25.11.2021)