Bis vor wenigen Jahrzehnten war das Bild der Urzeit des anatomisch modernen Menschen außerhalb Afrikas noch verhältnismäßig einfach. Man ging davon aus, dass Homo sapiens allenfalls zeitgleich mit dem Neandertaler koexistierte, ansonsten aber praktisch nichts mit seinem Verwandten zu tun hatte. Einige sensationelle archäologische Funde und nicht minder aufsehenerregende Genanalysen später ist die jüngere Menschheitsgeschichte erheblich komplizierter geworden: Unsere früheren Artgenossen, so zeigte sich, hatten gleich mit mehreren verwandten Spezies Kontakt und auch Nachkommen.

Eine davon wurde erst vor etwas mehr als einem Jahrzehnt in der Höhle von Denis im südsibirischen Altai-Gebirge nahe der Grenze zu Kasachstan identifiziert: Der nach der Fundstätte benannte Denisova-Mensch basierte zunächst zwar nur auf wenigen Knochenfragmenten, seine Existenz als eigenständige Menschenart ist dennoch inzwischen unbestritten. Wie weit der Denisova-Mensch bis vor 40.000 Jahren in Zentralasien verbreitet war, ist allerdings bis heute rätselhaft. Genetische Studie bestätigten immerhin frühere Vermutungen, wonach der Denisova-Mensch auch in Südostasien zu Hause war – und sich dort womöglich sogar bis vor 15.000 Jahren mit dem modernen Menschen vermischt hat.

Die Denisova-Höhle im südsibirischen Altai-Gebirge. Hier fand man die ersten Spuren des mysteriösen Frühmenschen.
Foto: AFP/ RICHARD G. ROBERTS

Neues aus der Denis-Höhle

Unklar war bisher auch, wann der Denisova-Mensch erstmals auf der Bildfläche aufgetaucht ist. Zumindest einen handfesten Hinweis darauf liefert nun ein internationales Forschungsteam im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution". Den Wissenschaftern ist es gelungen, weitere Knochenstücke vom Ort der ersten Funde in Sibirien als Denisova-Überreste zu identifizieren. Das Spektakuläre an diesen Ergebnissen: Einige der Funde sind rund 200.000 Jahre alt und somit die ältesten Zeugnisse der rätselhaften Bewohner der Denis-Höhle.

Trotz der bisher spärlichen Denisova-Funde hat man mittlerweile ein wenn auch lückenhaftes Bild vom Denisova-Menschen. So geht man etwa davon aus, dass der letzte gemeinsame Vorfahre mit dem Neandertaler vor 440.000 bis 390.000 Jahren gelebt haben muss. Wie auch der Neandertaler haben die Denisovaner Teile ihres Erbguts beispielsweise in heute lebenden Ureinwohnern Sibiriens, Ost- und Südostasiens, Australiens oder in Amerika hinterlassen. Das lässt den Rückschluss zu, dass sich der moderne Mensch mindestens zweimal mit dem Denisova-Menschen vermischt hat und er womöglich einst in Asien und Ozeanien weit verbreitet war.

Fünf weitere Knochenfragmente

Um die dünne Datenbasis etwas zu erweitern, hat das Team um Erstautorin Samantha Brown von der Universität Tübingen und dem Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena und ihre auch an der Universität Wien tätige Kollegin Katerina Douka rund 3.800 Knochenfragmente von Tieren und Menschen aus der Denisova-Höhle mit einem aufwendigen genetischen Verfahren untersucht. Dabei wurde klar, dass fünf weitere Knochenreste von Urmenschen stammen. Aus vier davon konnten die Forscher ausreichend Erbgut für weitere Untersuchungen gewinnen.

"Der Fund eines neuen menschlichen Knochens allein wäre schon cool gewesen", so Brown. Dass es aber gleich fünf geworden sind, "übersteigt meine wildesten Träume". "Wir waren erstaunt, dass wir neue menschliche Knochenfragmente in derart alten Ausgrabungsschichten gefunden haben, die tatsächlich intakte Biomoleküle ausweisen", sagt Douka. Bisher sei es noch nicht oft gelungen, überhaupt derart altes Erbgut zu analysieren.

Immer noch finden sich aussagekräftige Überreste in den Sedimenten am Grund der Denisova-Höhle.
Foto: AFP/ RICHARD G. ROBERTS

Jüngere Neandertaler-Knochen

Drei der Fragmente trugen mitochondriale DNA von Denisovanern, eines jene von Neandertalern. Letzterer Fund ist mit einem Alter von 130.000 bis 150.000 Jahren aber deutlich jünger als die drei "neuen" Denisovaner. Dass es einen Austausch zwischen den beiden Frühmenschenarten gab, wurde schon früher entdeckt. Die neue Studie untermauert dies weiter. In der Region dürften sich zwischen 200.000 und 50.000 Jahre vor unserer Zeit immer wieder Denisovaner und Neandertaler aufgehalten haben, so die Wissenschafter.

Die drei Denisova-Menschen haben die Höhle vor rund 200.000 Jahren in einer Zwischeneiszeit bewohnt, in der es ähnlich warm war wie heute. Damals gab es in dem Gebiet Wälder und Steppen. Das spiegelte sich auch in den Tieren wieder, auf die es die damaligen Menschen abgesehen hatten. So fanden sich in der Höhle Überreste von Sibirischen Rehen, von Rothirschen oder vom ausgestorbenen Riesenhirsch. Neben diesen eher in Wäldern anzutreffenden Tieren stellten sie aber auch Tieren nach, die eher offene Landschaften bevorzugten. Darunter waren Wildpferde, Gazellen oder heute ausgestorbene Steppenbisons und Wollnashörner.

Konkurrenz durch Raubtiere?

Zahlreiche Überreste von Wölfen und Rothunden legen nahe, dass die Höhle auch von Raubtieren genutzt wurde und diese vielleicht sogar mit den Frühmenschen um die Behausung konkurriert haben. Mit den vielen gefundenen Steinwerkzeugen aus jener Zeit wurden unter anderem Tierfelle behandelt. Die Steinwerkzeuge passen laut den Forschern kaum zu bekannten Funden aus jener Zeit aus Nord- oder Zentralasien, sondern eher noch zu aus dem Nahen Osten bekannten derartigen Relikten.

Spuren des Erbguts der ältesten bisher gefundenen Denisovaner finden sich vor allem in der DNA von Menschen aus südostasiatischen Inseln und aus Neuguinea. Daher sei es naheliegend, dass diese Menschen schon recht früh weite Teile Asiens bis in die Höhen des tibetischen Plateaus – wo ein Unterkiefer gefunden wurde – bewohnten, so die Wissenschafter. Das sei nur möglich gewesen, wenn sie auch die Fähigkeit hatten, sich gut an neue Umgebungen anzupassen.

Mit der neuen Hightech-Methode zum Aufspüren genetischer "Fingerabdrücke" habe man nun die Möglichkeit, "mehr menschliche Fossile aufzuspüren als bei herkömmlichen archäologischen Ausgrabungen". Das sei ein "technischer Durchbruch in der Paläolithischen Archäologie", meint der an der Uni Wien tätige Archäologe Tom Higham. (tberg, red, APA, 26.11.2021)