Trotz zahlreicher Bibelverweise, die auch bereits im ersten (mit dem Booker-Preis) ausgezeichneten Buch von Marieke Lucas Rijneveld vorkamen, ist der Zweitling Mein kleines Prachttier nur dann ein geeignetes Weihnachtsgeschenk, will man die beschenkte Person nachhaltig verstören.

Marieke Lucas Rijneveld, "Mein kleines Prachttier". 24,70 Euro / 364 Seiten. Übersetzt v. Helga van Beuningen, Suhrkamp, 2021
Cover: Suhrkamp

Es ist ein Buch, das man unbedingt aus der Hand legen will, vermittelt es doch das Gefühl, sich allein durchs Lesen mitschuldig zu machen, sich zu beschmutzen. Aus der Ich-Perspektive erzählt ein Tierarzt in allen Details von seiner Obsession für die 14-jährige Tochter des Milchbauern, für den er arbeitet.

Voller Tiermetaphern

Und weil man sich als Leserin oder Leser im Ich eines Buchs verliert und findet, kann man sich nicht immer erwehren, mit dem Pädophilen mitzufühlen. Nicht nur, weil er selbst als Kind Opfer von Missbrauch geworden war, sondern weil er weiß und uns immer wieder wortreich erklärt, dass es falsch ist, was er tut. Und so liest man weiter und wird zum Zeugen, fast zum Komplizen dieses Erzählers, wie er das Mädchen manipuliert, isoliert, vergewaltigt.

Marieke Lucas Rijneveld bringt die Lesenden an die Grenzen des Erträglichen. Trotzdem sind es nicht nur die schockierenden Szenen aus Mein kleines Prachttier, die lange in Erinnerung bleiben. Rijneveld gelingt eine ganz famose Charakterzeichnung dieser jungen Frau, und das unter der schwierigen Voraussetzung, dass wir sie in erster Linie als Objekt einer kranken Leidenschaft, als Opfer kennenlernen.

Trotzdem wird sie uns in ihren eigenen seltsamen Faszinationen für Hitler und Freud oder für 9/11, ihrem Penisneid und Hang zu Selbstverletzung sowie ihrer tiefen Trauer über den Tod des Bruders und das Verlassenwerden durch die Mutter ganz plastisch.

Über all dem liegt ein unerträglich heißer Sommer, die Trostlosigkeit des Dorflebens und der harten Arbeit der Bauern, die aus der Zeit gefallen wirkt und doch so viel über die Gegenwart erzählt – in einer eigentümlich-überladenen Sprache voller Tiermetaphern und popkultureller Anspielungen. Ein schwer zu lesendes, aber lesenswertes Medley verschiedener Arten von Traumata. (Amira Ben Saoud, ALBUM, 12.12.2021)