Als ich am Sonntag um vier Uhr in der Früh aufstehe, mir eine Dose Red Bull öffne und mich vor meinen Laptop setze, nehme ich mir vor, nicht zu ruhen, bis ich zusammenbreche. Ich logge mich auf lichess.org ein, meiner liebsten Schachwebsite, und werde in den kommenden 25 Stunden und elf Minuten nichts anderes tun, als Schach spielen.

Ich werde eine Maschine sein, die Springer gegen Läufer abtauscht und die kurze Rochade gegen die lange Rochade abwägt. Ich will so lange Schach spielen, bis ich zusammenbreche, und das hat einen ernsten Hintergrund: Denn zwischen diesen 64 Feldern haben sich schon viele große Spieler verloren. Ich möchte herausfinden, woran das liegt.

"Schach zieht überdurchschnittlich viele Sonderlinge an. Wenn die ihr Leben dem Brett widmen, wirkt das wie Wahnsinn."
A. Schulz, Chefredakteur "Chessbase"
Foto: Imago

Am 24. November ist in Dubai die Schachweltmeisterschaft gestartet. Der Norweger Magnus Carlsen, seit 2013 Weltmeister, gilt vielen als einer der besten Spieler der Geschichte und will seinen Weltmeistertitel gegen den russischen Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi verteidigen. Die beiden kennt man als psychisch stabil, aber in der Schachgeschichte sind schon einige Champions durchgedreht.

Paranoia und Halluzination

Paul Morphy etwa war einer der besten Spieler seiner Zeit. Im 19. Jahrhundert trieb er seine Gegner mit stürmischem Temposchach in die Ecke, bis er sich in seiner eigenen Paranoia verlor. Schon mit 21 musste er seine Karriere beenden. Wilhelm Steinitz, der erste Schachweltmeister, begann zu halluzinieren und versuchte ernsthaft gegen Gott zu spielen, nachdem er den Weltmeistertitel verloren hatte. Der legendäre Carlos Torre erlitt auf dem Höhepunkt seiner Karriere einen Nervenzusammenbruch, bevor er in eine Anstalt eingeliefert wurde.

Ein Tag Schachspielen wird mich sicherlich nicht in die Psychiatrie bringen. Aber vielleicht – zumindest wenn ich lange genug auf diese 64 Felder starre und die Schlaflosigkeit mein Gehirn weichgespült hat –, vielleicht verstehe ich dann etwas besser, was mit diesen Männern passiert ist.

Obwohl ich Schach liebe, spiele ich selbst mittelmäßig. Und heute früh spiele ich besonders unkonzentriert. Die ersten Partien des Tages eröffne ich wahllos: erst mit der Nimzo-Larsen-Attacke, dann mit der Ponziani-Eröffnung. Nach 20 Zügen gebe ich auf. Es ist meine fünfte Niederlage in Folge.

48 Gegner gleichzeitig

Im Gegensatz zu mir haben Großmeister oft ein fotografisches Gedächtnis, sie haben jeden einzelnen Zug von tausenden Partien im Kopf und rechnen ein Dutzend Züge im Voraus. Sie können gegen etliche Spieler gleichzeitig antreten und ganze Partien im Kopf spielen, ohne ein einziges Mal aufs Brett zu sehen. 2016 nahm es der usbekische Großmeister Timur Gareyev mit 48 Gegnern auf und gewann 35 der Spiele. Gleichzeitig. Mit verbundenen Augen. Während er auf einem Ergometer strampelte. Im Gegensatz zu diesen Männern habe ich den Geist eines Pantoffeltierchens.

Wenn Helmut Pfleger, jahrzehntelang einer der besten deutschen Spieler und ehemaliger Psychotherapeut, auf eine Schachstellung blickt, dann erkennt er sofort Muster. So wie es Wörter in einer Sprache gebe, gebe es im Schach Motive, die ständig wiederkehrten. Wer oft spiele, sehe das Brett mit völlig anderen Augen, sagt Pfleger.

Im Netflix-Hit Damengambit spielt Anya Taylor-Joy die medikamentenabhängige, obsessive Schachspielerin Beth Harmon.
Foto: Netflix

"Einer der Gründe, warum manche Männer viel Schach spielen, mag ein ödipaler Komplex sein", sagt Pfleger. Mithilfe der Mutter, repräsentiert durch die Dame, versuche der Schachspieler den Vater, also den König, zu töten. Etliche der besten Spieler der Welt seien vaterlos aufgewachsen, sagt Pfleger. Auch ich habe meinen Vater nicht kennengelernt.

Aber macht Schach wahnsinnig? "Nein!", ruft Pfleger, Schach sei sogar gesund: als Gehirnjogging. Mental belastend seien im Schach nur die Niederlagen, denn eine Partie Schach werde jedes Mal persönlich. Der Fußballer kann sich immer trösten: der Mitspieler, das Wetter, die Linienrichterin, der verschleppte Muskelfaserriss oder was auch immer. Aber der Schachspieler, der ganz allein vor dem Brett sitzt, kann nur an sich selbst zweifeln, wenn er verliert.

Klüger als du

Und er wird sich für einen brillanten Kopf halten, wenn er gewinnt. In keinem anderen Spiel fühlt sich siegen so gut an. Der Verlierer kann nichts auf den Zufall schieben, der Gewinner wird immer behaupten: Genau so habe ich es geplant. Und immer schwingt mit: Ich habe dich intellektuell überrumpelt. Dich in eine geometrische Falle gelockt. Deinen Plan erkannt, bevor du ihn ausführen konntest. Heute war ich klüger als du.

Wenn ich wissen will, was mit den irren Großmeistern passiert ist, muss ich mich mehr anstrengen. Ich konzentriere mich jetzt und spiele nur noch die italienische Eröffnung, mit der ich mich auskenne. Wenn ich früh im Spiel eine Figur verliere, dann werde ich nicht wütend, sondern kämpferisch. Ich habe eine Siegesserie.

Gegen sechs Uhr in der Früh schleiche ich durch die WG, steige aufs Dach und spiele im Sonnenaufgang weiter. 22 Stunden bevor ich zusammenbrechen werde, glaube ich, bis in alle Ewigkeit weiterspielen zu können.

Der schillernde Bobby Fischer

Ich besaufe mich an meiner Siegesserie auf dem Dach. Wie ich die Dame des Lichess-Users "ManFai" in Zug 22 fessele und er sofort aufgibt. Wie ich den König des Users "Br0nc0" in die Ecke schubse, ihn mit zwei Springern und der Dame umtänzele, bevor ich ihn hinrichte. Wie ich "Hrach1949" mit meinem eigenen König und zwei Bauern mattsetze. Großer Gott, fühlt sich das gut an. So spielt kein Pantoffeltierchen, so spielte der junge Bobby Fischer.

Von allen Schachspielern, die durchgedreht sind, ist Bobby Fischer der schillerndste. Als er 1972 für die USA gegen den Russen Boris Spasski um den WM-Titel spielte, beschimpfte er die Veranstalter und tauchte zur zweiten Partie des Duells gar nicht erst auf. Fischer war ein exzentrischer Choleriker, aber er spielte brillant. Im sechsten Spiel besiegte er Spasski mit einer solch schlichten Eleganz, dass Spasski vom Brett aufstand und Fischer applaudierte. Mitten im Kalten Krieg. Fischer wurde weltberühmt und löste in den USA einen Schachboom aus, bevor er endgültig abdrehte. Später leugnete er den Holocaust und lobte die Anschläge vom 11. September. Fischer litt unter einem Verfolgungswahn, wechselte ständig seinen Wohnort, und nachdem er die amerikanische Staatsbürgerschaft verloren hatte, fand er 2005 Asyl in Island, wo er drei Jahre später starb.

Schach ist etwas für Autisten

Mittlerweile ist es Nachmittag geworden. Ich sitze schon seit neun Stunden ununterbrochen vor dem Schachbrett, stopfe mich mit Kuchen voll und trinke Eiskaffee. Ich fühle mich großartig. Keine Spur von Wahnsinn. Vielleicht ist dieses ganze Wahnsinnigwerden einfach aus der Mode gekommen.

Bobby Fischer war der letzte Großmeister, der so richtig durchgedreht ist. Heute sind Weltklassespieler höfliche und disziplinierte Herren – keine Skandale, keine Schachpartien gegen Gott.

Bobby Fischer gilt als einer der genialsten Schachspieler aller Zeiten. Er litt unter Verfolgungswahn, leugnete den Holocaust.
Foto: Imago Stock & People

Ich fange an, an meiner These zu zweifeln, also rufe ich André Schulz an, während ich eine Partie gegen den User "math-lover" spiele. Schulz ist Chefredakteur des Schachnachrichtenportals "chessbase.com" und hat ein Buch über Schachgeschichte geschrieben. Macht Schachspielen jetzt irre, oder nicht?

Schachspieler würden nicht wahnsinnig, weil sie so viel Schach spielten, sagt er. Vielmehr würden sich überdurchschnittlich viele sonderbare Menschen für Schach interessieren. "Schach zieht Autisten an, die die logische Klarheit im Spiel lieben." Eigenbrötler können einander beim Schach stundenlang gegenübersitzen und müssen dabei kein Wort wechseln. Nerds können hier unter ihresgleichen bleiben. Aber sind das wirklich Wahnsinnige?

"Nein", sagt Schulz, "aber wenn solche Leute dann auch noch blind Schach spielen, eine eigene Wissenschaft zu dem Spiel entwickeln und ihr ganzes Leben einem Brettspiel widmen, dann wirkt das auf Außenstehende wie Wahnsinn."

Zum Abendessen genehmige ich mir eine entspannte Partie mit 30 Minuten Bedenkzeit. Läufer B5, ein Happen Butternutkürbis. Springer F3, ein Schlückchen Red Bull. Diese erholsame Partie werde ich brauchen. Jetzt kommen die harten Stunden: Ich will auf Crack umsteigen. Wenn mich 17 Stunden Schach noch immer nicht in den Wahnsinn getrieben haben, dann muss ich blitzen.

Ein erster kleiner Verfolger

Während ich regungslos vor meinem Computer sitze, gewittert es in meinem Kopf. Ich will die Siege so sehr, aber ich werde immer dümmer. Mit jeder Niederlage werde ich ängstlicher. Droht mir da gerade ein Grundreihenmatt? Der hat es doch auf meinen Königsspringer abgesehen! Ich sehe Gefahren, wo keine sind. Am Brett werde ich immer paranoider, und wenn ich kurz die Augen schließe, dann sehe ich das Brett weiter vor mir. Endlich bekomme ich ein bisschen Verfolgungswahn.

Gegen zwei Uhr morgens fühle ich mich sonderbar leicht. Schwebe ich? Ein schrilles Plingen von meinem Computer holt mich zurück: Ich habe nicht geschwebt, sondern bin über meinem Laptop zusammengebrochen, habe ein paar Sekunden geschlafen und das Zeitlimit meiner Partie überschritten.

Gedanken lesen

Schnell öffne ich mir ein Red Bull, gehe ins Bad, kaltes Wasser ins Gesicht. Das Schachbrett vor meinem inneren Auge wird immer deutlicher. Der Wahnsinn scheint zum Greifen nahe. Jetzt nicht nachlassen! Ich blitze weiter.

Klar, ich habe nicht nur 82 Partien Schach gespielt, sondern auch drei Liter Red Bull getrunken und seit 24 Stunden nicht geschlafen. Hätte ich 24 Stunden lang Backgammon gespielt: Vielleicht würde ich jetzt Zackenmuster vor meinem inneren Auge sehen. Schach allein führt sicher nicht in den Wahnsinn, aber dass auffällig viele Großmeister durchgedreht sind, kann auch kein Zufall sein: Vereinsspieler versuchen ständig, die Gedanken ihrer Gegner zu lesen. Kein Wunder, dass Steinitz irgendwann an Telepathie glaubte. Sie müssen kreativ sein, logisch denken, und das alles unter Zeitdruck. Schach ist kraftzehrend.

Intellektuelle Demütigung

Und dann ist da noch die ständige Angst vor der Niederlage, die immer auch eine intellektuelle Demütigung ist. Obwohl Bobby Fischer der beste Spieler seiner Zeit war, hatte er panische Angst vor dem Verlieren und litt unter Verfolgungswahn. Und ich sitze mit zersetztem Gehirn vor meinem Computer, lasse mich von fremden Menschen aus dem Internet zerpflücken und könnte vor Wut heulen. Aber ich werde meinen Marathon nicht als Verlierer beenden.

Um 4.49 Uhr beginne ich eine Partie gegen "mohapmahmoud". Ich verliere früh meinen Turm, aber egal: Ich konzentriere mich auf mein Bauernspiel. In Zug 52 bekomme ich einen Bauern durchgedrückt und verwandele ihn in eine Dame. Scheiße, JA! Zwei Züge später, um 5.11 Uhr, ist "mohapmahmoud" matt, und ich bin erlöst. Ich falle ins Bett, überall Schachbretter.

Ich schlafe kurz und unruhig. (Yves Bellinghausen, 27.11.2021)