Virtual Reality ist gekommen, um zu bleiben.

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Manchmal haben Hersteller einen guten Riecher, sind mit ihrer Idee aber einfach zu sehr ihrer Zeit voraus. Die Folge: Das Produkt, das seinen Markt revolutionieren und Massen an Käufern hätte anlocken sollen, endet als Ladenhüter. So in etwa ist es Nintendo 1995 gegangen, als der japanische Spielekonzern den "Virtual Boy" auf den Markt gebracht hatte.

Angespornt vom Erfolg des Nintendo und Super Nintendo sowie des Gameboy, probierte man sich als Vorreiter für eine neue Art des elektronischen Entertainments. Durch eine Brille sollte man mit nie dagewesener Immersion in neue Umsetzungen von Games wie "Mario Tennis" eintauchen können, dargestellt auf 384 x 224 Pixel pro Auge in monochromer Ausführung. Doch diese frühe Form von Virtual Reality war technisch unausgereift und zu primitiv, um zu überzeugen. Dementsprechend verloren andere Spielestudios schnell das Interesse, Titel für diese Plattform zu produzieren. Heute ist der Virtual Boy, der aufgrund seiner Erfolglosigkeit nie den europäischen Markt erreicht hat, ein Sammlerstück.

Dubbloseven

Der Oculus-Hype von 2012

Ein ähnliches Schicksal erwarteten manche auch für den nächsten Virtual-Reality-Anlauf, den 2012 ein Start-up namens Oculus nahm. Man stellte den Prototyp einer VR-Brille vor, mit der man mit 360-Grad-Rundumsicht in Spiele eintauchen konnte. Die Crowdfunding-Kampagne dafür wurde ein voller Erfolg, nicht zuletzt dank des großen Medienechos. Auch dieser Erstling war mit allerlei Schwächen behaftet: Niedrige Auflösung samt "Fliegengittereffekt", Schlieren bei schnellen Bewegungen und niedrige Bildwiederholrate sorgten dafür, dass das an sich faszinierende Erlebnis so manchen Nutzer seekrank machte.

Dass der Hersteller selbst – im Gegensatz zu Nintendo damals – noch ausdrücklich nicht von einem fertigen Produkt, sondern eben einem "Entwickler-Kit" sprach, hielt die Erwartungen aber letztlich in einigermaßen realistischen Grenzen. 2014 erhielt Oculus dann schließlich Zugang zu schier endlosen Ressourcen, als die Firma für zwei Milliarden Dollar von Facebook (heute: Meta) aufgekauft wurde. So sehr man den Konzern für seine Verfehlungen, insbesondere bei seinem Social Networks, kritisieren kann, so wichtig war dieser Schritt für den weiteren Fortschritt der Technologie.

Der Hype um Oculus’ erste VR-Brille, aber auch der Einstieg des IT-Riesen sorgten für gesteigertes Interesse bei anderen Unternehmen. HTC sperrte eine eigene VR-Schiene auf, die sich als langlebiger als seine Smartphone-Sparte erwiesen hat. Google setzte auf Mobile VR in Verbindung mit einem Smartphone, später stieg auch Samsung mit Gear VR ein. Microsoft implementierte VR-Support in Windows 10 und spornte Partnerhersteller an, eigene Brillen zu bauen. Valve implementierte VR-Schnittstellen in seine Steam-Plattform und begann die Arbeit an eigener Hardware. Und andere Firmen, etwa Pico, widmeten sich dem Potenzial von VR im Geschäftskundenbereich.

Dennoch schien es zwischenzeitlich, als ob der Markt wieder zum Erliegen kommen könnte. Die ersten "fertigen" VR-Brillen waren recht teuer und technische Kompromisslösungen, die die Spieler mit dicken Kabeln zwischen Brille und Computer limitierten. Abseits von Enthusiasten am sprichwörtlichen "Bleeding Edge" gab es im Endkundenbereich kaum Publikum. Und der Erfolg von VR-Cafés und ähnlichen Angeboten, bei denen der Betreiber das Equipment, Spiele und technische Betreuung stellte und Besucher für VR-Spielzeit zahlen, hielt sich nach anfänglichem Interesse in Grenzen.

Auf dem Weg zur Massentauglichkeit

Dass VR gekommen war, um zu bleiben, war aber rückblickend spätestens seit 2016 klar. In jenem Jahr entschloss sich Sony, ein eigenes Virtual-Reality-Kit für die Playstation 4 zu veröffentlichen. Und damit diese Form des Erlebens digitaler Inhalte für viele Millionen Menschen zugänglich und für Spielestudios interessanter zu machen. Von einem "Massenmedium" kann man im Kontext der Gesamtspielerzahlen noch nicht sprechen, aber immerhin wurden seitdem fünf Millionen PSVR-Sets verkauft.

Den Beweis, dass VR aber an der Schwelle dazu steht, künftig in vielen Haushalten anzutreffen zu sein, erbringt hingegen die Oculus Quest 2. Sie hat nicht nur diese Verkaufszahlen, für die PSVR über vier Jahre brauchte, in weniger als zwei Jahren erzielt, sondern wurde laut Hersteller damit sogar öfter verkauft als alle anderen VR-Brillen in seinem Sortiment bisher gemeinsam.

Sie löst auch eine Reihe von Problemen, die sich bisher als Hemmschuh für die Technologie erwiesen haben. Ein (teurer) PC wird nicht mehr benötigt, die Rechenpower bringt die Brille selbst mit. Es gibt kein störendes Kabel mehr. Die Auflösung lässt zwar noch Pixel erkennen, ist aber gut genug, um nicht mehr ständig von einem Fliegengittereffekt aus der Immersion geworfen zu werden. Der Bildschirm schliert nicht, die Bildwiederholrate ist ausreichend hoch, und auch ein gutes Soundsystem ist ab Werk integriert. Sie ist mehr als nur ein Kompromiss der stationären und der mobilen VR-Welt.

Der Einstiegspreis liegt mit 350 Euro circa auf dem Niveau der Nintendo Switch. Und vor allem: Auch wenn der Katalog natürlich nicht so mächtig ist wie jener von Nintendo, der Playstation oder der Xbox, gibt es mittlerweile viele gute Inhalte, die eine Anschaffung rechtfertigen.

Spielen, Reisen, Lernen

Einige seien hier etwas näher vorgestellt. Zu erwähnen wäre etwa Beat Saber. In dem Spiel gilt es im Rhythmus zur Musik Blöcke zu zerschlagen, wobei dazu das jeweils passende der beiden "Lichtschwerter" eingesetzt und die Schlagrichtung beachtet werden muss. Dazu gilt es Hindernissen auszuweichen und Nebenaufgaben, etwa möglichst viel Armbewegungen, zu erfüllen.

LIV

Beat Saber ist für VR ein bisschen wie Super Mario als "Einstiegsdroge" für Nintendo-Konsolen, in dem Sinne, dass es der ultimative Vorzeigetitel für Virtual Reality ist. Das Spielprinzip ist intuitiv verständlich und fesselnd. Der Rest fällt unter "einfach zu lernen, schwer zu meistern". Welchen nahezu verrückten Schwierigkeitsgrad manche Spieler zu bewältigen imstande sind, dokumentieren zahlreiche Videos auf Youtube und anderen Plattformen. Es ist kein Wunder, dass das Spielprinzip seitdem als Inspiration für ähnliche Games gedient hat, darunter der ebenfalls großartige Rhythm-Shooter Audica, in dem man die Schwerter gegen zwei Pistolen eintauscht.

Eine überzeugende Nutzung der Plattform bietet auch The Climb 2 von Crytek. Es handelt sich um eine semirealistische Klettersimulation mit gut anpassbarem Schwierigkeitsgrad. Von Griff zu Griff hantelt man sich über Berge, eisige Gletscher und durch Häuserschluchten. Das Spiel mischt dabei leichtes Workout mit Planung, denn es führen mehrere – aber nicht alle – Wege ans Ziel, weswegen die nächsten Schritte gut geplant sein wollen.

Die ansehnlichen VR-Landschaften bieten Panoramaweitblick, aber sind auch gespickt mit netten kleinen Details, für die man manchmal genauer hinsehen muss. Eine schöne Beschäftigung für Bergsportler, wenn das Wetter gerade nicht mitspielt und die Kletterhalle gerade nicht lockt, als auch für jene, die sich "in echt" nicht auf dieses Wagnis einlassen würden. Besonders motivierte Kraxler können auch in allerlei Wettbewerben mit Spielern rund um die Welt konkurrieren.

Oculus

Den umfassendsten Gebrauch der gegebenen Möglichkeiten macht die Boxsimulation The Thrill of the Fight – vorausgesetzt, man verfügt über zumindest 2 x 2 Meter nutzbare Freifläche. Denn die benötigt man für den Watschentanz im virtuellen Ring. Soweit ich mir als Laie mit circa 2,5 Jahren Boxtraining-Erfahrung zutraue zu sagen, ist das wohl die realistische Boxerfahrung, die bisher durch ein Videospiel vermittelt hat. Der Schwierigkeitsgrad hat es durchaus in sich, weswegen man froh sein darf, dass virtuelle Kinnhaken auch nur virtuell weh tun.

Auch abseits von Spielen gibt es viel zu erleben. Und gerade in Lockdown-Zeiten ist die Möglichkeit des virtuellen Reisens nicht zu unterschätzen. National Geographic entführt in seiner VR-App zu einer Reihe kulturell bedeutender Stätten, die man erforschen kann. Brink Traveller hingegen lässt einen in spektakuläre Landschaftspanoramen rund um die Welt eintauchen. In der liebevoll umgesetzten VR-Version des Anne-Frank-Hauses wird wiederum das Potenzial von VR im Bildungsbereich aufgezeigt.

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An der Schwelle

Für den langsamen Durchbruch spricht auch, dass in den letzten Jahren einige VR-Entertainment-Zentren eröffnet haben. Sie bieten VR-Escape-Rooms und andere Spiele, die teils auch von großen Studios wie Ubisoft geliefert werden. Das Interesse des Publikums, das auf diesem Wege auch noch ganz ohne Eigenanschaffung einer Brille mit der Technologie vertraut wird, scheint mittlerweile da zu sein. Immer mehr Geld fließt auch in die weitere Professionalisierung dieses Bereichs, auch in technischer Hinsicht.

Für Kinos stellt VR gleichzeitig Chance und Bedrohung dar. Mit 360-Grad-Kameras aufgezeichnete Filme könnten das Publikum deutlich mehr beeindrucken als üblicher 3D-Content, vorausgesetzt man scheut als Betreiber das Investitionsrisiko nicht. Herausfordernd ist ein solches Format natürlich auch für Filmstudios, denn man muss neue Formen von Erzählung und Inszenierung finden, wenn die Zuseher künftig Rundumblick haben, statt auf einen Blickwinkel festgenagelt zu sein.

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Gleichzeitig werden große Fernseher nicht nur immer billiger, sondern künftige VR-Brillen mit höherer Auflösung könnten das Heimkino überhaupt virtualisieren. Unter dem Namen Bigscreen gibt es bereits ein Online-VR-Kino. Und sollte der Trend, dass Filme gleichzeitig oder nur mit kurzer Verzögerung zum Kinostart über Streamingplattformen verfügbar werden, anhalten, werden die verbleibenden Lichtspielhäuser ohnehin bald ein neues Alleinstellungsmerkmal benötigen.

Doch zurück zur VR-Zukunft. Wie Metas Metaverse genau aussehen wird, weiß man noch nicht. Und selbst Mark Zuckerberg, der dieser Vision folgend gleich seinen ganzen Konzern umbenannt hat, ist der Ansicht, dass dessen Entstehung noch mindestens fünf Jahre dauern wird. Klar scheint aber, dass VR-Technologie ein essenzieller Bestandteil sein wird, wenn man die Möglichkeiten der nächsten Evolutionsstufe des Internets ausreizen will.

Die Entwicklung, wie uns die neun Jahre seit dem Start von Oculus gezeigt haben, wird bis dahin natürlich nicht stehen bleiben. Und egal, ob das Zuckerberg'sche Metaverse ein Erfolg wird oder floppt, Virtual Reality steht vor einer großartigen Zukunft, von der sich schon heute kosten lässt. (Georg Pichler, 27.11.2021)