Svenja Flaßpöhler mengt sich als Philosophin gerade auch in aktuelle Debatten ein: "Demokratie impliziert ein Ringen um Einsichten."

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Für Platon war nur der Philosoph zur Lenkung des Staatsganzen befähigt. Allein er wird vom Gerechtigkeitsprinzip geleitet, nur der Philosoph behält das Wohl des Ganzen im Auge. Weniger im Blick hatte der Urvater des abendländischen Denkens die Eignung von Philosophen für die Teilnahme an öffentlich-rechtlichen Talkshows.

Die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler, die vor einiger Zeit über "den Willen zur Lust" promoviert hat, ist ein häufig gebuchter Talkgast. In den Debattenforen über Gott und Corona werden von allen möglichen Experten Erwägungen im Sinne des Gemeinnutzes angestellt. Pandemiker stoßen dort frontal mit Flaßpöhler zusammen. Sie? Nimmt die Rolle der von Berufs wegen Allzuständigen ein. Ist die Verlässlichkeit in Person, bis an die Zähne mit Argumenten bewaffnet.

Flaßpöhler schreibt Bücher, die auf engstem Raum aktuelle Debattenstände abbilden. Doch in Sensibel, dem jüngsten Titel, wird eben nicht, wie kolportiert, der Gendersensibilität gewaltsam das Wasser abgegraben. Eher schon konstatiert die Chefredakteurin des Philosophie Magazins eine Art Belastungstransfer. Die Quelle des individuell oder von Gruppen gefühlten Schmerzes wird nach außen verlagert. Flaßpöhler sagt: "Muss das Ich sich ändern, um sich den Herausforderungen der Welt anzupassen? Oder muss die Welt sich ändern, um sich den Verletzlichkeiten der Individuen und Gruppen anzupassen?"

Die Transformation des Trauma-Begriffs zeige, so Flaßpöhler gegenüber dem "Standard", die Tendenz an. Die Welt habe Rückbau zu betreiben, um vor der Empfindlichkeit von Gruppen zu kapitulieren. "Das halte ich für eine bedenkliche Entwicklung, weil es die Sensibilität verabsolutiert. Was passiert? Man imaginiert den Menschen als offene Wunde, die man vor jeder Infektion schützen muss. Der Blick geht dabei nur nach außen, in die Strukturen. Diese problematisiert man mit Blick auf die Zumutungen, vor denen das Subjekt zu bewahren sei."

Versuch der Differenzierung

Flaßpöhler hat vor Jahren die MeToo-Debatte dazu benützt, Frauen aus der – wie sie meinte – Klemme der Passivität zu helfen. Jetzt hat sie im Fernsehen bei Hart aber fair Reserven gegenüber der Impfpflicht erkennen lassen. Postwendend wurde ihr von der Süddeutschen Zeitung sorgloser Umgang mit "harten" Fakten vorgeworfen. "Ich hatte in der Sendung den Versuch einer Differenzierung unternommen, indem ich versuchte, die Seite der Nichtgeimpften zu sehen. Die steckt man kollektiv in einen Sack, auf den man tüchtig einschlägt, anstatt den Gedanken zuzulassen, dass diese Pandemie die Menschen sehr unterschiedlich betrifft."

"Mischt man sich als Philosophin in diese Debatte ein, wird man sofort mit einem Modewort konfrontiert: Man ‚schwurble‘. Mit Schwurbeln ist eine Kreisbewegung gemeint, die nirgendwo hinführt. Haltloses Geschwätz. Ich beobachte diese Entwicklung mit Sorge."

Die gegen die gewerbsmäßige Philosophie gerichtete kalte Wut hat nicht nur das Feuilleton erreicht: "Wir haben es mit einem tiefen Misstrauen gegen alle nicht naturwissenschaftlichen Fächer zu tun: Alles, was aktuell keine Epidemiologie, keine Virologie, keine Immunologie ist, gilt plötzlich als irrelevant oder gar gefährlich. Es gehe ja schließlich allein darum, konkret Menschenleben zu retten, es sei nicht die Zeit für reflektierte Sichtweisen oder lange Debatten."

Ihr Gegenargument: "Genau die bilden aber die DNA jeder Demokratie. Demokratie impliziert ein Ringen um Einsichten. Ja, natürlich zählt jedes Menschenleben. Stattdessen plädiert man jetzt für eine reine Praxeologie. Wir müssen aber aufpassen, dass wir unsere Staatsform nicht nachhaltig beschädigen; ganz abgesehen von den Kollateralschäden, die eine rein virologische Sicht auf die Pandemie mit sich bringt."

Resilienz vs. Sensibilität

Flaßpöhler selbst ist mit ausreichend Widerstandskraft gesegnet. Resilienz ist die zähe Schwester der Sensibilität. Unfreundlicher verfährt die Denkerin mit Auswüchsen einer Gesinnung, die die eigene Schmerzempfindlichkeit zur absoluten Norm erhebt.

Wohin mit subversiven Anwandlungen? Wie soll man die Gefälle erklären, die aus der Verkehrung einer vorgefundenen Hierarchie resultieren? "Ich sehe es als einen Fortschritt an, dass wir eine neue Vielstimmigkeit innerhalb der Debatte wahrnehmen. Marginalisierte Gruppen fordern Rederecht ein. Diese Entwicklung ist sehr zu begrüßen. Aber diese Debatten, die wir über Rassismus und Sexismus führen, sind nur deshalb möglich geworden, weil wir in einer sehr fortschrittlichen Gesellschaft leben. Sie bilden den Ausweis dafür, wie gleichberechtigt westliche Gesellschaften heute eingerichtet sind. Das berühmte Tocqueville-Paradox bezeichnet das: Je gleichberechtigter Gesellschaften sind, desto sensibler werden wir für noch bestehende Differenzen."

Manchmal schlage Schmerz in Rigidität um, in Härte. Dann fällt die Sensibilität mit Aggressivität in eins. Empfindlichkeit vermengt sich mit Empfindsamkeit. Flaßpöhler pflegt die Rolle der Philosophin als öffentliche Person: Empörungswellen rinnen an ihr ab. Es gebe allemal genug "Sexismen und Unwuchten" in unserer Gesellschaft zu kritisieren: "Aber diese Gesellschaft bietet eben auch sehr viele Möglichkeiten, die von Frauen häufig nicht ergriffen werden. Da brauchen wir eine selbstkritische Perspektive von uns Feministinnen auf uns selbst."

Moral statt Recht

Kein Wunder somit, dass Flaßpöhler den Rückzug von Kathederphilosophinnen scharf kritisiert, die, weil sie das Konzept eines "biologischen" Geschlechts hochhalten, von Transaktivisten attackiert werden. So unlängst geschehen im Fall der Philosophin Kathleen Stock, die ihre Professur an der University of Sussex aufgab. Deutschlands umtriebigste Philosophin meint dazu: "Hier wird Moral in Recht überführt. Diese Dynamik stellt für eine Demokratie, die sich selbst freiheitlich nennt, eine ernste Bedrohung dar. Natürlich gehört die Transgender-Community zu den eher marginalisierten Gruppen, da gibt es auch rechtlich viel aufzuarbeiten. Man hat sich die Argumente dieser Menschen sehr genau anzuhören. Aber darum geht es in dem Fall ja nicht. Es soll die eigene Marginalisierung funktionalisiert und umgekehrt werden, um aus der vermeintlichen Opferposition heraus moralische Macht auszuüben."

Auch dieser Anspruch charakterisiert Flaßpöhler: das Denken gegen Anmaßungen wachzuhalten. Um die nächsten Shitstorms braucht sich die öffentliche Philosophin ohnehin nicht zu sorgen. (Ronald Pohl, 27.11.2021)