Es ist ein immer radikaleres Bild, das sogenannte Maßnahmenkritiker und Impfgegner bei ihren Demos abgeben.

Foto: Imago / Gottfried Czepluch

Sie rufen "Wir sind das Volk", malen Plakate mit Sprüchen wie "Freiheit für Ungeimpfte" und tragen gelbe Aufnäher in Sternform mit dem Wort "U geimpft": Es ist ein immer radikaleres Bild, das sogenannte Maßnahmenkritiker und Impfgegner bei ihren Demos abgeben.

Dabei kommen die Teilnehmer aus zuerst unterschiedlichen ideologischen Lagern. Die Bandbreite reicht von Rechtsextremen wie den Identitären bis zu Esoterik-affinen Bürgern, die der "Schulmedizin" nicht trauen. Eine Studie der Uni Wien und der Sigmund-Freud-Uni gibt Aufschluss über die Einstellung der Demonstranten: Demnach hatten 30 Prozent bei den jüngsten Wahlen FPÖ gewählt, 20 Prozent die Grünen und 20 Prozent die ÖVP. Das hat sich während der Pandemie verändert.

Knapp 57 Prozent gaben zum Zeitpunkt der Befragung Anfang 2021 an, dass sie heute FPÖ wählen würden, 33 Prozent haben sich von etablierten Parteien abgewendet. Gemeinsam weisen sie einen starken Hang zu esoterischem Denken auf: Fast 70 Prozent fordern die Gleichstellung von "Schulmedizin" mit "Alternativmedizin", ebenso viele wollen mehr "spirituelles und ganzheitliches Denken" der Gesellschaft, 68 Prozent glauben an natürliche Selbstheilungskräfte bei Corona.

Dieser Trend spiegelt sich auch in der Allianz jener wider, die die Proteste organisieren: Sie reicht von der FPÖ über die neue Partei MFG bis zu Gruppen im "Querdenker"-Milieu und bei Rechtsextremen.

Freiheit, die sie meinen

Der gemeinsame Nenner ist die Ablehnung von aus ihrer Sicht freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und der Impfung. Sehr groß werden die Proteste in Wien immer dann, wenn die FPÖ mitorganisiert – wie am 20. November. Bemerkenswert war, dass die Demo-Organisatoren den Identitären die erste Reihe überließen: Sie dirigierten den Marsch und führten ihn mit ihren Bannern an.

Interessant ist die Konkurrenz zwischen FPÖ und MFG. Die MFG hat in Oberösterreich gezeigt, dass sie bei Wahlen reüssieren kann – solange Corona relevant ist. Sie könnten jene längerfristig ansprechen, die die fremdenfeindliche Rhetorik der FPÖ ablehnen. Bisher ist die MFG den Themen Migration und Integration ausgewichen. Auch "Sicherheit" kam nur in Bezug auf mRNA-Impfungen vor.

Ein Blick in einschlägige Chatgruppen zeigt, dass sich die außerparlamentarischen Corona-Leugner immer weiter radikalisieren. Man wähnt sich im Bürgerkrieg und in einer Diktatur des "Systems". Das macht die "Querdenker" gefährlich. Denn wer glaubt, in einer Diktatur zu leben, empfindet gewaltsamen Widerstand als gerechtfertigt.

Extremismusforscher Stefan Goertz spricht – ähnlich wie bei den Staatsverweigerern – von der "Delegitimierung des Staates", dessen Organe (Politik, Polizei, Behörden) man angreifen müsse. Daraus ergäben sich auch "zufällige", vereinzelte Anschläge, wenn sich eine Gelegenheit böte. Man nennt das "stochastisch en Terror". Ein "drittes Standbein des Terrorismus" zeichne sich hier ab, warnt Goertz. Auch Sicherheitsexperte Peter Neumann sieht eine "neue Front", die in einer diversen Szene entsteht, die "sehr viele Menschen mobilisieren kann". In Österreich wurden von der Polizei bereits im Mai Waffen und Munition in der "Querdenker"-Szene gefunden. (Vanessa Gaigg, Colette M. Schmidt, 27.11.2021)