Die Kontrahenten: Carlsen in Weiß, Nepomnjaschtschi in Schwarz.

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Das große Grübeln da, ...

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... das große Grübeln dort.

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Dubai – "Das war eine verrückte Partie", sagt Jan Nepomnjaschtschi in der Pressekonferenz nach Runde zwei. Was der Herausforderer damit meint: Er und der Weltmeister haben sich an diesem Samstag einen hin- und herwogenden Kampf geliefert, in dem beide Seiten Chancen kreierten und wieder vergaben, bevor das Remis nach 58 Zügen unterschriftsreif war.

Das ist nicht unbedingt charakteristisch für Weltmeisterschaften der jüngeren Vergangenheit. Zumeist werden die ersten paar Partien genutzt, um erst einmal in das WM-Match hineinzuspüren, das ja ein Marathon und kein Sprint ist. Was haben der Gegner und sein Team an Eröffnungen mitgebracht? In welcher Variante könnte sich eine günstige Gelegenheit finden lassen, um der Vorbereitung des Kontrahenten auszuweichen oder sie zu übertrumpfen? Das sind die Fragen, die sich die beiden Spieler und ihre Teams zu Beginn von WM-Matches stellen, und entsprechend vorsichtig gehen beide Parteien in der Regel anfangs zu Werke.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 2.
Österreichischer Schachbund

Nach zwei Runden im Dubai Exhibition Center lässt sich sagen: Diese WM ist anders. Die beiden Friedensschlüsse in Partie eins und zwei können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Carlsen und Nepomnjaschtschi die Phase des Abtastens weggelassen haben. Nepo zeigt keinen übertriebenen Respekt vor Carlsen, spielt phasenweise genauso schnell und unbekümmert, wie man es von ihm kennt. Carlsen wiederum schreckt nicht davor zurück, mit beiden Farben früh materielle Ungleichgewichte zu schaffen und weit ausanalysierte Pfade zu verlassen, um eine inhaltsreiche Partie aufs Brett zu bekommen.

In Partie zwei ist es in einer Katalanischen Partie bereits der achte Zug, 8. Se5, mit dem der Weltmeister seinen Gegner in eine längere Nachdenkpause schickt. Wieder ist es ein Springerzug, und wieder opfert Carlsen, wie schon in Partie eins, damit einen Bauern für langfristige positionelle Kompensation. Mit Bauern auf d4 und e4 erhält der Norweger bald eine ideale Zentralformation, Nepo kann dafür den auf c4 eingeheimsten Mehrbauern konsolidieren und eine Art weißfeldrige Barrikade errichten.

Gerade als die Kommentatoren voll des Lobs für das spritzige Spiel des Champions sind, unterläuft ihm ein ärgerlicher Fehler. Mit 16. Se5 zwingt Carlsen seinen Gegner, dessen schwarzfeldrigen Läufer abzutauschen. Aber er hat das darauffolgende Gegenspiel des Russen völlig unterschätzt. Nepo kommt ans Brett, hackt den weißen Springer weg und schiebt, ohne noch einmal nachzudenken, das eigene, am Brettrand zwischengeparkte Rössel auf das Feld c5. Von dort aus wird es in Carlsens Damenflügel eindringen und gemeinsam mit dem anderen Springer Kleinholz daraus machen.

Carlsens Tintenfisch

Dem Weltmeister bleibt jetzt nichts anderes mehr übrig, als "all in" zu gehen: Dem bereits geopferten Bauern wirft Carlsen noch eine Qualität (Turm für Springer) hinterher. Im Gegenzug verwandelt sich sein Pferd auf dem idealen Vorpostenfeld d6 in einen Oktopus, der in allen Richtungen nach Nepos Figuren schnappt und in naher Zukunft nicht zu vertreiben sein wird. Dennoch: Qualität plus Bauer ist nicht einmal dieses Untier wert. Wenn es Nepomnjaschtschi gelingt, die unmittelbaren Drohungen abzuwehren und seine Stellung zu konsolidieren, dann muss er jetzt hervorragende Chancen auf einen Schwarzsieg haben.

Es ist dieser Moment, in dem Nepo es mit dem lockeren, schnellen Spiel übertreibt. Um einen angedeuteten Königsangriff Carlsens im Keim zu ersticken, wirft der Russe aus dem Handgelenk einen seiner doppelten c-Bauern über Bord. Carlsen nimmt dankend an und fährt fort, den Druck auf die schwarze Stellung zu vergrößern. Wenige Züge später hat sich das Blatt gewendet: Nun ist es der Herausforderer, der dem Anschein nach mit dem Rücken zur Wand steht und äußert präzise reagieren muss, um die rund um dessen Superspringer auf d6 sprießenden Drohungen des Weltmeisters zu parieren.

Verpasste Chancen

Wie bereits in Partie eins zeigt Nepo sich im entscheidenden Augenblick auf der Höhe. Er bietet Carlsen keinen Anhaltspunkt mehr für ein ernsthaftes Spiel auf Vorteil und wickelt kurz vor der Zeitkontrolle in ein Turmendspiel mit Minusbauer ab. Jeder Großmeister weiß, wie dieses Endspiel mit zwei gegen drei Bauern auf einem Flügel verteidigt werden muss. Jan Nepomnjaschtschi, die Nummer fünf der Weltrangliste, ist schon ziemlich lange Großmeister. Sein Turm und der von Carlsen drehen noch ein paar Ehrenrunden über das fast leere Brett, wie Eiskunstläufer nach erfolgreich absolviertem Programm. Dann einigen sich die Kontrahenten auf das zweite Remis dieses Wettkampfs, nach dem es 1:1 steht.

Bei der Pressekonferenz geben beide Spieler zu erkennen, dass sie sich der verpassten Chancen durchaus bewusst sind. Gleichzeitig scheinen beide glücklich darüber, dass der jeweils andere ihre Patzer bisher nicht entscheidend ausnutzen konnte. "Ein bisschen untypisch", nennt der Weltmeister die Runden eins und zwei dieser WM. Und als Zuschauer denkt man: So untypisch darf es ruhig weitergehen.

Partie drei beginnt im Dubai Exhibition Center am Sonntag um 13:30 MEZ. (Anatol Vitouch, 27.11.2021)