Azra Zornić will nichts anderes als ihre Bürgerrechte. Doch in Bosnien-Herzegowina sind längst nicht alle Bürger gleich. Juden etwa, aber auch Roma dürfen nicht für das Amt des Staatspräsidenten oder für das Haus der Völker kandidieren. Auch Frau Zornić darf das nicht, weil sie sich keiner der drei sogenannten dominanten Volksgruppen, den Bosniaken, den Serben, den Kroaten zuordnen will. Frau Zornić ist einfach nur eine Bosnierin, eine Bürgerin. Bereits 2014 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die bosnische Verfassung geändert werden muss, damit Menschen wie Frau Zornić nicht länger benachteiligt werden. Die Urteile, die die die fundamentale Diskriminierung gegen Juden oder Roma aufheben sollten, stammen bereits aus dem Jahr 2009.

Doch obwohl die Gleichheit aller Bürger das Fundament aller Demokratien sein sollte und obwohl innerhalb der EU niemand wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe diskriminiert werden darf, hat sich bisher niemand für Bosnier und Bosnierinnen wie Frau Zornić eingesetzt. Sie erzählt, dass sich seit Juli 2014, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu ihren Gunsten entschieden hat, kein relevanter politischer Akteur bei ihre gemeldete habe. "Hier in Bosnien und Herzegowina haben wir drei ethnische Stammesführer, die sich ethnische Vertreter nennen. Die Umsetzung meines Urteils würde dieses diskriminierende System – und mit ihm auch die Stammesführer – zu einem vollständigen politischen Zusammenbruch führen", meint sie.

Verfassung für alle Bürger

Sie fordert eine Bürgerverfassung, die endlich ein funktionierendes Regieren ermöglichen würde. Sie verweist, dass alle Nichtnationalisten in Bosnien-Herzegowina, Zehntausende Menschen, die sich nicht ethnisch-rassisch definieren wollen, weil sie diese Ideologie ablehnen, nicht nur nicht kandidieren dürfen, "sondern auch keine Chance auf eine richtige Anstellung, Bildung und bessere Gesundheitsversorgung haben". Denn durch den Ethnoproporz kommen Nichtnationalisten oder Minderheiten nur schwer ins System.

Nicht alle können für das Parlament in Sarajevo kandidieren.
Foto: AFP/Barukcic

Seit vielen Monaten wird im Lande über die Änderung des Wahlgesetzes und der Verfassung diskutiert. Die kroatisch-nationalistische HDZ will vor allem, dass einer ihrer Politiker als Kroate ins Staatspräsidium gewählt wird. Viele HDZ-Wähler fühlen sich von den Bosniaken "überstimmt", weil nicht nur Bosnier, die sich als Kroaten bezeichnen, den Nichtnationalisten Željko Komšić gewählt haben, der nun als Kroate im Staatspräsidium sitzt.

Gerrymandering

Die HDZ hat deshalb vorgeschlagen, drei Wahlbezirke einzuführen, die so gestaltet werden sollen, dass in einem – B – jedenfalls der HDZ-Kandidat gewinnen soll. Der Wahlkreis C hat – sieht man das bisherige Wahlverhalten an – keine klaren Mehrheiten. So eine Neuordnung der Wahlbezirke erinnert aber nicht nur an das in den USA bekannte Gerrymandering, wonach die Wahlkreisgrenzen manipuliert werden sollen, um die eigenen Erfolgsaussichten zu maximieren, sondern stellt auch die von der EU selbst und vor allem von Deutschland gesetzte Maxime, dass es in Bosnien-Herzegowina nicht zu einer weiteren Spaltung entlang ethnischer Grenzen kommen darf, infrage.

Der US-Diplomat Matthew Palmer setzt sich wiederum dafür ein, die ethnischen Präfixe für die Wahl der drei Mitglieder des Staatspräsidiums wegzulassen. Der Verfassungs- und Bosnien-Experte Josef Marko meint, dass das Weglassen der ethnischen Präfixe für die Präsidentschaft in der Verfassung allein nicht zu einer Beendigung der sogenannten "direkten Diskriminierung" führen kann, weil es, wie Frau Zornić zu recht befürchtet, auf die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts ankommt.

Weglassen der Bezeichnungen "kroatisch" und "bosniakisch"

Der HDZ-Vorschlag zur Änderung des Wahlgesetzes geht wiederum ausschließlich von kroatischen und bosniakischen Präsidentschaftskandidaten aus, die zu wählen wären. "Das reicht keinesfalls zu einer Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)", so Marko. Um diese umzusetzen, müsste auf jeden Fall auch im Text auch ersatzlos gestrichen werden, dass es um die Wahl eines "bosniakischen" und eines "kroatischen" Mitglieds geht.

"Würden die ethnischen Präfixe sowohl in der Verfassung wie im Wahlgesetz gestrichen, dann könnte man argumentieren, dass damit jedenfalls die 'direkte Diskriminierung' in Umsetzung der Urteile des EGMR beseitigt ist, auch wenn im Ansatz wieder ein ethnisches "gerrymandering" in Form der Wahlkreiseinteilung für die Wahlkreise A und B vorgenommen wird", meint Marko. Es bleibe aber die Frage offen, ob es sich dann nicht um eine Form der "indirekten Diskriminierung" handeln würde, wie auch Zornić befürchtet. "Dazu gibt es aber keine Judikatur des EGMR", so Marko.

EU unterstützt Ethno-Nationalisten

Einige Vertreter der EU unterstützen den Vorschlag der HDZ. Denn die HDZ hat es in den vergangenen Jahren durch viel Lobbying in den EU-Institutionen geschafft, wichtige Akteure für sich zu gewinnen. Zu der Propaganda der HDZ gehört, dass sie behauptet, dass Komšić vor allem deshalb gewählt worden sei, weil in den Moscheen, dazu aufgefordert worden wäre, um den HDZ-Kandidaten zu verhindern.

Komšić hat 2018 225.500 Stimmen bekommen, ähnlich viele wie der nichtnationalistische bosniakische Kandidat Denis Bećirović (194.688). In Bosnien-Herzegowina gibt es hunderttausende Menschen wie Frau Zornić, die gegen Nationalismus und für ein Ende der ethnonationalistischen Spaltung sind. Es wird bisher kein ersichtlicher Druck aus den EU-Staaten ausgeübt, dass die fünf Urteile des EGMR endlich umgesetzt werden.

Drohungen gegen Izetbegović

Denn die allermeisten westlichen Diplomaten oder Politiker setzen weiterhin auf die Kooperation mit den Ethnonationalisten, mit anderen Parteien oder Vertretern von Institutionen, wird oft nicht einmal gesprochen. Zur Zeit ist der Druck der USA und der EU extrem groß, dass die größte bosniakische Partei die SDA auf die Wünsche der HDZ eingeht. Dem Chef der SDA, Bakir Izetbegović wird Diplomaten zufolge deshalb sogar mit Sanktionen gedroht, falls er nicht auf einen Deal mit der HDZ einsteigt.

Der Druck hat damit zu tun, dass vor allem die US-amerikanischen Diplomaten von der Annahme ausgehen, dass sie die beiden nationalistischen Parteien der Bosniaken und Kroaten – sowie während des Kriegs im Washingtoner Abkommen – zusammenbringen müssen. Andere Diplomaten denken wiederum, dass der HDZ-Chef Dragan Čović seinen extrem nationalistischen Kurs aufgeben würde, wenn er im Staatspräsidium sitzen würde. Doch Čović war bereits Präsident und auch während dieser Zeit hat er genau so agiert, vor allem die Kooperation mit dem Separatisten Milorad Dodik hat er beibehalten.

Appeasement gegenüber dem Separatisten

Izetbegović ist zur Zeit in der Causa auf derselben Linie wie die nicht-nationalistischen Parteien und will dem Deal nicht zustimmen. Zu dem Deal gehört auch, dass Dodik und seine SNSD, die seit einigen Monaten die Institutionen boykottieren, entgegen gekommen werden soll, wenn es um das Staatseigentum geht. Bereits im Jahr 2012 stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass der Staat der Eigentümer allen Eigentums der früheren Sozialistische Republik Bosnien-Herzegowina innerhalb von Jugoslawien ist. Dodik will dies allerdings nicht akzeptieren, sondern verlangt, dass 100 Prozent des Besitzes in das Eigentum der Entitäten übergehen soll. Ihm geht es auch um die Wälder. Denn diese Liegenschaften möchte er, Berichten zufolge, auch als Sicherheiten verwenden, um Kredite für die Republika Srpska aufzunehmen.

Dodik hat in den vergangenen Wochen durch seine Sezessionsdrohungen und konkrete Schritte das Land in die schwerste Krise seit Ende des Kriegs gebracht und viele Menschen in tiefe Angst gestürzt. Dodik wird zudem von Serbien und Russland unterstützt. Seine Drohungen scheinen sich aber für ihn auszuzahlen. Denn nun – so wollen es "westliche" Diplomaten wie etwa der von der rechtspopulistischen ungarischen Regierung entsandte Kommissar für Erweiterungsverhandlungen, Olivér Várhelyi – soll eben auch im Sinne Dodiks über das Staatseigentum verhandelt werden. Es gibt Überlegungen, wonach 90 Prozent an die beiden Landesteile gehen soll. Kommende Wochen kommen wieder Vertreter der EU (Angelina Eichhorst) und der USA (Matthew Palmer) nach Sarajevo, um diesen Deal festzuzurren.

Von eigenen Werten gelöst

Frau Zornić ist ob dieser Politik der EU und der USA tief enttäuscht, aber nicht überrascht. "Die Bürger haben das Vertrauen in die Europäische Union und ihre guten Absichten ihnen gegenüber verloren", sagt sie zum STANDARD. "Deutschland, die drei Benelux-Staaten und Tschechien waren dafür, Dodik zu sanktionieren, aber leider blieben sie mit ihren Absichten allein." In letzter Zeit sei auch das Vertrauen der Bürger in die wohlwollende amerikanische Politik gegenüber Bosnien-Herzegowina erschüttert worden. "Wenn sich die westliche Diplomatie inzwischen so weit von ihren Werten gelöst hat, dass sie aktiv eine Politik fördert, die essenzialistische, ethnische Territorialteilungen und eine weiche Trennung unterstützt, dann sollten sie hoffen, dass ihre eigenen Länder in Zukunft nicht vor ähnlichen extremen politisch desintegrativen Herausforderungen stehen", stellt Zornić klar. (Adelheid Wölfl, 28.11.2021)