Mit einem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag kündigt die künftige Regierung der Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen in Deutschland ihr Ziel an: "Mehr Fortschritt wagen". Eine Anspielung auf die berühmte Regierungserklärung Willy Brandts (1969), des ersten sozialdemokratischen Kanzlers im Bündnis mit den Liberalen: "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Dass nach 16 Jahren "Kanzlerschaft der Kompromisse", verkörpert im Stil und in der Substanz durch Angela Merkel, erstmals Aufbruchsstimmung zu spüren ist, spiegelt sogar der Titel des Leitartikels des sonst eher skeptischen Londoner Economist: "Ein vielversprechender Anfang", mit dem Zusatz auf Deutsch am Ende des Textes: "Viel Glück!"

Die deutschen Medien beschäftigen sich in erster Linie mit den möglichen trennenden Faktoren und Zielkonflikten bei der Umsetzung des ambitionierten Programmes und den bereits offen zutage tretenden Rivalitäten bei den Grünen zwischen den Flügeln, zwischen "Realos" und "Fundis".

Der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
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So nominierte ihr Parteivorstand trotz der Proteste der Linken nicht den Biologen und Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter, sondern den 55-jährigen Cem Özdemir, den früheren Parteivorsitzenden, zum Landwirtschaftsminister. Dieser bekannte Politiker mit Migrationshintergrund hätte größere Expertise für die Leitung des Außenministeriums als Annalena Baerbock, die Co-Vorsitzende der Grünen und große Verliererin der Bundestagswahl. Wie so oft in der Kampagne, hinterließ sie einen fahrigen Eindruck bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages.

Kampf um die Demokratie

Ein langes Interview mit ihr im letzten Spiegel bestätigt die in Fachkreisen weitverbreiteten Zweifel über die Eignung der gescheiterten Kanzlerkandidatin für die Spitze des Auswärtigen Amtes. Wie kann sie zum Beispiel die Wiederbelebung des sogenannten "Weimarer Dreiecks", dieses 1991 gegründeten Konsultationsforums zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, als "entscheidend für Europa" bezeichnen, trotz "vieler kontroverser Themen" mit der Warschauer Regierung?

Sie sollte zumindest das im selben Heft geführte Gespräch über den Kampf um die Demokratie in Polen mit dem großen Publizisten Adam Michnik lesen. Ihre wolkigen Phrasen aus dem EU-Wörterbuch und die Eindrücke, wie sie sich so oft verhaspelt, lassen eine künftige Begegnung mit Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan beinahe als einen Albtraum erscheinen.

Man kann nur hoffen, dass ein Bundeskanzler Olaf Scholz, der hochgebildete und erfahrene Realpolitiker, so wie Angela Merkel in der Außenpolitik die federführende Rolle spielen wird. Überhaupt scheint diese Persönlichkeit mit lebenslanger politischer Erfahrung, der in Bezug auf sich selbst einmal vom "Charisma des Realismus" gesprochen hat, der wichtigste Stabilitätsfaktor bei der mit vielen künftigen Verwerfungen verbundenen Zeitenwende in Deutschland zu sein.

Für ihn dürfte freilich auch die zum geflügelten Wort gewordene Bemerkung Harold Macmillans gelten. Der konservative britische Premierminister (1957–1963) wurde einmal gefragt, was die größten Schwierigkeiten waren, mit denen er konfrontiert war. "The events, my dear boy" ("Die Ereignisse, mein lieber Junge"). (Paul Lendvai, 30.11.2021)