Im Gastkommentar beschreibt die Historikerin Shoshana Duizend-Jensen, wie unangebracht Vergleiche mit dem Nationalsozialismus sind.

Wien, Heldenplatz, 20. November 2021, großes Banner, schwarz mit gelber und weißer Schrift: "Keine Diskriminierung! Nein zu 1G/2G – 1938 darf sich nicht wiederholen", Menschen, die sich Judensterne an die Brust heften, auf ihnen steht aber nicht "Jude", sondern "ungeimpft", einige Demonstranten und Demonstrantinnen warnen gar vor dem Einsperren der Ungeimpften in das ehemalige KZ Mauthausen. Alles dokumentiert während der Demonstration an jenem Samstag in Wien.

Nur drei Beispiele

Das war Wien 1938: Ehud Nahir, damals ein Jugendlicher, berichtete, dass die SS im März oder April im Augarten einen "Gauturnwettbewerb" veranstaltete, bei dem Juden zum Froschhüpfen und Turnen gezwungen wurden, ein frommer Jude hatte seinen Hut zu lüften und wieder aufzusetzen und die anderen mussten dabei je nach Hutaufsetzen und -abnehmen "Jude" und "verrecke" schreien. Wenn sie es nicht taten, gab es Prügel. Sie hatten keinen Ausweg und folgten, was die Scham und Demütigung noch verstärkte.

Das war Wien 1938: Friedrich H., geboren 1900, Drogist, wohnhaft in 1140 Wien, suchte 1938 um Aufnahme in die NSDAP an. Während des Novemberpogroms, am 10. November 1938, erhielt er als Zellenleiter der Ortsgruppe Breitensee nach eigener Aussage eine "Vorladung" in die Ortsgruppe, um den Auftrag zu erfüllen, in Wohnungen von Juden und Jüdinnen Hausdurchsuchungen durchzuführen und sämtliche dort gefundenen Wertgegenstände in die Ortsgruppe zu bringen. Dabei nahm er auch selbst eine Verhaftung vor. H., der als Inhaber einer Drogerie in der Nachbarschaft bekannt war, ging in die Wohnungen zweier ihm bekannter Frauen. Eine dieser Frauen, die Jüdin Maria Beer, beging nach dem brutalen Diebstahl ihres gesamten Vermögens am 25. November 1938 Selbstmord durch Leuchtgas.

Das war Wien 1938: Im Stuwerviertel in Wien-Leopoldstadt gab es drei jüdische Bethäuser. Der Automechaniker Franz Josef S., 1909 geboren, wurde im Jahr 1947 vom Volksgericht angeklagt, seine Verbrechen bestanden in der Arisierung des Sporthauses Kurt Pollak in 1020 Wien, Taborstraße 11b, sowie Legen von Feuer in Bethäusern und schwersten Misshandlungen von Juden, Franz Josef S. war ab 1923 bei der NSDAP-Jugend und ab 1931 Mitglied der SA. Alle drei Bethäuser wurden unter Führung von Franz Josef S. ausgeplündert und angezündet, die Täter tanzten um die brennende Einrichtung des Bethauses Stuwerstraße, Juden und Jüdinnen wurden demütigende Tafeln umgehängt, und sie mussten vor jüdischen Geschäften stehen, wo sie von Passanten weiter gequält wurden.

Es sind nur drei Beispiele aus tausenden Vorfällen, die sich in den Monaten März bis November 1938 ereigneten.

Ein Plakat von der Demonstration in Wien vom 20. November.
Foto: AFP / Florian Schrötter

Antisemitische Gefahr

Die Corona-Pandemie bringt das Schreckgespenst der Verharmlosung der Shoah wieder an die Oberfläche. Die gesamte österreichische demokratische Zivilgesellschaft ist aufgerufen, gegen diese Gefahr entschiedener als bisher aufzutreten. Ganz vorn beim Demonstrationszug marschierten am 20. November extreme Rechte mit dem Banner "Der Austausch, Great Reset". Dahinter steht die Ideologie der durch "Eliten" geplanten Pandemie, um die Wirtschaft zu zerstören. Welche "Eliten" damit gemeint sind, muss allen klar sein.

Die sogenannte "Jüdische Weltverschwörung" ist eine alte Erzählung, sie führte, wie man weiß, von 1938 bis 1945 zur nahezu kompletten Vernichtung des europäischen Judentums. Nennen wir es doch endlich beim Namen, dass ein Teil dieser angeblich harmlosen Demonstranten und Demonstrantinnen, die den Rechtsextremen vermeintlich wohl oder übel nur hinterherlaufen, antisemitisch denkt und fühlt. Es bleibt womöglich nur noch wenig Zeit, bis es zu gewaltsamen Übergriffen kommt. (Shoshana Duizend-Jensen, 30.11.2021)