Sein neues Werk für Elektroautos baut VW nicht in Osteuropa, sondern in Deutschland.

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Noch brummt der Wirtschaftsmotor Osteuropas, doch die Corona-Krise hat gezeigt, wie schnell Sand ins Getriebe kommen kann: Wegen des akuten Chipmangels wird die tschechische VW-Tochter Škoda heuer wohl 250.000 Autos weniger produzieren als geplant. Für ein Land, dessen Wirtschaftsleistung zu einem großen Teil von der Automobilindustrie abhängig ist, ist das besonders schmerzhaft.

Laut Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), sollte das Beispiel aus Tschechien ein Warnsignal für ganz Ostmitteleuropa sein. Länder wie Polen, Tschechien oder die Slowakei hatten sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auf den Export von Produktionsgütern spezialisiert – und davon bisher enorm profitiert. Wie aus einer aktuellen Studie des WIIW hervorgeht, könnte aber gerade diese Spezialisierung Osteuropa bald vor enorme wirtschaftliche Probleme stellen.

"Spezialisierungsfalle"

Grund dafür sind mehrere Faktoren: Zum einen werden die arbeitsintensiven Exportindustrien, von denen Ostmitteleuropa abhängig ist, in den nächsten Jahren einen massiven Strukturwandel erleben. Betroffen davon ist vor allem die Autoindustrie, die für die Region besonders wichtig ist. Zum anderen steht und fällt der Produktionssektor mit den niedrigen Lohnkosten. Ein Dilemma: Um mit Westeuropa wirtschaftlich gleichzuziehen, müssten auch die Gehälter steigen. Das würde allerdings zur Abwanderung wichtiger Industriebetriebe führen, weil der Wettbewerbsvorteil wegfällt.

Anstatt die Bedeutung des Produktionssektors zurückzudrängen, hat sich die Spezialisierung in vielen osteuropäischen Ländern in den letzten Jahren sogar noch weiter verstärkt, erklärte Grieveson bei einem Onlinevortrag am Montag. "Das könnte nun zur Falle werden." Die Länder hätten zwar lange vom großen Produktionssektor profitiert, sollten ihr Modell in den kommenden Jahren aber dringend umstellen. Andernfalls drohe dem wirtschaftlichen Aufschwung eine "gläserne Decke".

Eine Umstellung der Wirtschaft würde auch mehr Unabhängigkeit von ausländischen Geldgebern bedeuten. Der Zufluss an Direktinvestition in die EU-Mitglieder Ostmitteleuropas betrug in den Jahren 2010 bis 2019 im Schnitt 2,6 Prozent des BIP. In Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei entfielen davon rund 30 Prozent auf die produzierende Industrie. Dass ausländische Investitionen weiter ein derartiger Wachstumstreiber bleiben, ist laut Grieveson unwahrscheinlich. "Das wird sich zwar nicht über Nacht ändern, aber doch allmählich."

Höhere Schuldenquoten

Aus Sicht der Studienautoren braucht es neben Investitionen in Dekarbonisierung und Digitalisierung auch eine "strategisch ausgerichtete Industriepolitik". Das wird nicht zuletzt massive öffentliche Investitionen notwendig machen. Helfen könne dabei der Corona-Wiederaufbaufonds "Next Generation EU", aber auch die Staaten selbst werden mehr Kredite aufnehmen müssen. Dafür wäre laut den Studienautoren mehr Flexibilität innerhalb des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU notwendig – also höhere Schuldenquoten.

Laut der Studie würde ein Wandel hin zu einer "innovationsgetriebenen" osteuropäischen Wirtschaft für Westeuropa zwar zunächst mehr Konkurrenz bedeuten. Längerfristig könnten wichtige Handelspartner wie Deutschland oder Österreich aber von einer höheren Nachfrage in der Region profitieren. (Jakob Pflügl, 29.11.2021)