Die Politologen Sieglinde Rosenberger und Gilg Seeber erklären in ihrem Gastkommentar die aus ihrer Sicht schlechte Corona-Politik unter anderem mit Verschiebungen der Kompetenzen innerhalb der Regierung.

Die Bundesregierung war Covid-19 bislang nicht gewachsen. Dass alle Freizeit- und Kultureinrichtungen geschlossen, aber die Seilbahnen vom Lockdown ausgenommen sind, unterstreicht das Scheitern ebenso wie die Tatsache, dass die Maßnahmen auf der informellen Konferenz der Landeshauptleute beschlossen wurden.

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Bundeskanzler Alexander Schallenberg: Zwar Erster unter Gleichen in der Regierung, aber seit Türkis-Blau doch mit mehr Kompetenzen ausgestattet.
Foto: Reuters/Leonhard Foeger

Das politische Scheitern hat viele Gründe. Einer liegt in der jüngeren Praxis der limitierten Ministerverantwortlichkeit bei einer gleichzeitig an Kompetenzen angereicherten Rolle des Bundeskanzleramts.

Ohne verfassungsrechtliche Richtlinienkompetenz ausgestattet, ist der Bundeskanzler Erster unter Gleichen. Es gilt die Ressortverantwortlichkeit über Themen und Personal, andererseits handelt die Bundesregierung als Kollegialorgan. Seit 1945 wird daraus ein Konsensgebot abgeleitet: Regierungsvorlagen werden einstimmig im Ministerrat verabschiedet. Diese beiden Prinzipien, Ressortverantwortlichkeit und Einstimmigkeit, sollen gewährleisten, dass Koalitionsregierungen in grundsätzlichen Angelegenheiten eine Übereinstimmung suchen.

Die ÖVP-FPÖ-Regierung 2017 begann mit einer grundlegenden Reorganisation der Geschäfte; die ÖVP-Grüne-Regierung 2020 übernahm im Wesentlichen diese Organisationsbestimmungen. Die beiden Novellen des Bundesministeriengesetzes erlauben dem Bundeskanzler, eine Art Richtlinienkompetenz auszuüben. Überraschend ist, dass zu beiden Zeitpunkten eine öffentliche Kommentierung dieser Kompetenzanmaßung ausblieb. Konkret zeigt sich die gestärkte Stellung im Regierungsgefüge in bisher nicht dagewesenen Anhäufungen von Zuständigkeiten sowie in der Zentralisierung der Information.

Neuen Passus festgeschrieben

Neben der Fülle von ins Bundeskanzleramt verschobenen Politikbereichen – wie die Integrationspolitik oder die Angelegenheiten des Hörfunks und des Fernsehens – fallen die zusätzlichen Koordinationsfunktionen auf. So enthält die Novelle 2017 einen neuen Passus, wonach internationale Krisen im Bundeskanzleramt koordiniert werden ("Anlassbezogene Koordination innerstaatlicher Maßnahmen zur Bewältigung überregionaler oder internationaler Krisen oder Katastrophen"). Covid-19 fällt in diese Kategorie. Den Artikel dürfte Kanzler Alexander Schallenberg demnach im Kopf gehabt haben, als er davon sprach, dass ein Krisentreffen, das der grüne Gesundheitsminister angesichts der drastischen Entwicklungen in den Krankenhäusern ankündigte, nicht stattfinden werde, weil er es eben so sage.

"Es ist höchste Zeit sich wieder auf die Verfassung zu besinnen."

Weiters findet sich in dem betreffenden Gesetz eine Bestimmung, die dem Bundeskanzler in Materien, die mehrere Ministerien betreffen, die Koordination einräumt ("Zusammenfassende Behandlung und Koordination in Angelegenheiten, die den Wirkungsbereich zweier oder mehrerer Bundesministerien berühren"). Diese Regelung greift unmittelbar in die ministerielle Kompetenz ein und gibt dem Kanzler einen übergeordneten Status.

Vermutlich kann dies das ÖVP-dominierte Arrangement der Pressekonferenzen selbst bei rein gesundheitlichen Maßnahmen erklären. Wenn die Koordinationsaufgabe aber vordergründig kommunikativ verstanden und nicht substanziell erfüllt wird, entsteht ein Entscheidungsvakuum und damit eine Situation, die den Gesundheitsminister in seiner verfassungsrechtlichen Kompetenz und Verantwortung blockiert.

Mehr Informationsrechte

Auch die Informationsrechte des Bundeskanzlers gewannen seit 2017 deutlich an Umfang. Neu ist die Bestimmung über den Ausbau der Informationstätigkeit. Demnach übernimmt das Bundeskanzleramt die Rolle des "Sprechers der Bundesregierung mit der Aufgabe, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Medien (…) zu informieren. Dazu gehören (…) die Durchführung von Pressekonferenzen, Interviews und Hintergrundgespräche zu politischen Themen, die Herausgabe von gemeinsamen Pressemitteilungen". Diese Bestimmung ist eine Hürde für die eigenständige Medienarbeit von einzelnen Ministerien.

Sachpolitik schien 2020 mit der Einigung auf das Regierungsprogramm und der Ressortverteilung erledigt zu sein. Das Regierungsprogramm konnte die Gesundheitskrise selbstverständlich nicht antizipieren, sie dachte vielmehr an Migrationskrisen. Die angemaßte Richtlinienkompetenz ist demnach weniger für das inhaltliche Politikmachen konzipiert, sondern auf Kommunikationshoheit programmiert. Sie ist ein Instrument, um die ÖVP stark zu machen und den Regierungspartner klein zu halten. Dieser Mechanismus funktionierte in der Migrationspolitik, er funktioniert aber nicht in der Pandemiepolitik.

In der Pandemie verabsäumte es die Bundesregierung, nicht zuletzt unterstützt durch die institutionellen Änderungen im Sog des Projekts "Ballhausplatz" der türkisen ÖVP, zeitgerecht und koordiniert zu handeln. Irrungen zwischen verfassungsrechtlicher Ministerverantwortlichkeit des Gesundheitsministers und einfachgesetzlicher Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers mündeten in Nicht-Politik sowohl zwischen Bund und Ländern, mehr aber noch innerhalb der Regierung. Es ist höchste Zeit, sich wieder auf die Verfassung zu besinnen und Verantwortung für die Republik wahrzunehmen. (Sieglinde Rosenberger, Gilg Seeber, 1.12.2021)