Franz Morak, emeritierter VP-Kulturpolitiker, spricht noch heute der "Kreativwirtschaft" das Wort: "Die ist nicht von vornherein Kunst. Aber alles in ihr kann Kunst sein."

Foto: Joseph Gallus Rittenberg

Franz Morak sträubt sich dagegen, sich zur aktuellen Kulturpolitik zu äußern. Aber der furiose Sänger und umstrittene ÖVP-Kulturpolitiker der Regierungen Schüssel I und II tritt auf Nachfrage nach wie vor für die Schaffung eines "kreativwirtschaftlichen" Bewusstseins ein: ein unruhiger Kopf, der verlässlich gegen den Mainstream argumentiert.

STANDARD: Darstellende Künstler müssen sich im x-ten Lockdown als Streaming-Dienstleister verdingen. Wie wäre es dem Burgtheaterschauspieler Franz Morak damit ergangen?

Morak: Ich bin, was die Kulturbranche betrifft, durchaus ein gebranntes Kind. Aber ich könnte mir vorstellen, dass die heutigen Theater mit den Möglichkeiten, die sie haben, sich den Kopf zerbrechen, wie sie mit dem Medium Online umgehen. Was ist der Beitrag von den kreativen Damen und Herren zur ganz spezifischen Darstellung ihrer Arbeit im Netz? Wie erreiche ich mein Publikum? Durch die Erfindung einer neuen Theaterästhetik fürs Netz, angepasst der jetzigen Situation. Man muss Formen erfinden, die mit dem Medium übereinstimmen. Ich habe zum Beispiel zu Beginn meiner politischen Karriere versucht, eine Online-Zeitung zu etablieren: Das war in der digitalen Steinzeit, etwa um 1997. Damals wurde rasch klar, dass man in einem solchen Medium keine "langen" Artikel schreiben kann. Genauso muss man auch den genuinen Möglichkeiten der Streaming-Portale Rechnung tragen. Da tun sich erfrischende Bildwelten auf.

STANDARD: Das Theater nimmt dadurch nicht Schaden?

Morak: Unsere etablierten großen Theater werden vom Bund oder Wien bezahlt, sie sind also abgesichert. Unser wirkliches Problem liegt darin, dass es uns an Plattformen mangelt, solchen, die unsere künstlerischen Erzeugnisse und Darbietungen vermitteln, und zwar weltweit. Unter diesem Mangel habe ich bereits als Kulturpolitiker gelitten.

STANDARD: Sie meinen kleinere Kulturproduzenten?

Morak: Es passiert in diesem Land kulturell unheimlich viel. Doch kaum jemand nimmt davon Notiz. Die meisten Dinge lassen sich eben nicht multiplizieren. Wie erschaffe ich eine Plattform? Ich erinnere mich großer Enqueten in Brüssel: Der Ehrgeiz zielte darauf ab, ein "neues" Internet zu erfinden. Frankreich war damals federführend dabei. Das lief alles "top down", doch leider, so funktionieren die Dinge eben nicht. Heute sieht das Fördersystem überwiegend wie folgt aus: Betroffene Personen sitzen in Gremien und verteilen Geld, weil sie zum Beispiel den Politikern kein Vertrauen schenken. Es urteilen somit Betroffene über Betroffene. Wen wir in solchen Gremien indes niemals dabeisitzen haben, das sind die wirklichen Adressaten aller Bemühungen: das Publikum. Für jeden originären Künstler müsste aber dieser Adressat ausschlaggebend sein, nicht das Gremium.

STANDARD: Ihre Änderungsvorschläge in Ihrer Zeit als Kunststaatssekretär stießen auf zum Teil vehementen Widerstand.

Morak: Man muss jeden Politiker eindringlich davor warnen zu sagen: Morgen machen wir es anders! Aus eigener Erfahrung weiß ich, Veränderung birgt Unruhe. Dabei existieren praktisch alle meine Neueinführungen heute noch. Denken Sie an das Künstlersozialversicherungsfondsgesetz, die Förderung von Film, von Rockmusik, von Galerien. Wir sind leider Gottes darauf konditioniert zu sagen: Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Bevor man im Vorzimmer eines Ministers herumsitzt, könnte man doch einmal Ioan Holender zur Situation der Kartenpreise befragen. Zum Beispiel im Burgtheater spielt die Crème de la Crème der Schauspielerinnen und Schauspieler des Sprachraums. Wenn Lady Gaga vor 1.000 Leuten auftritt, dann möchte ich nicht einmal raten, was der Stehplatz kostet.

STANDARD: Die Wertschöpfung wird nicht zufriedenstellend betrieben?

Morak: Wenn man vom Theater kommt, endet der Horizont erst einmal hinter der Bühnentür. Im Parlament konnte ich mich davon überzeugen, dass keineswegs alle Politiker bloß dumm und korrupt sind, da sind auch sehr kluge und fleißige Leute am Werk. Ich begann mich mit einem Konzept von Tony Blair zu beschäftigen, aus dessen Zeit als Oppositionspolitiker. Er lancierte eine Aktion mit Titel "Kulturwirtschaft". Deren Prinzip bestand im Öffnen neuer Handlungsfelder für die Kreativwirtschaft. Fortan galt es, Architektur, Mode, Design, Fremdenverkehr, Foto, Film, aber auch "neue" Medien und Werbung mit einzubeziehen. Ich habe versucht, für lauter Vertreter dieser Sparten Handlungsfelder zu öffnen, zum Teil unter dem Hohngelächter der Opposition. "Morak will die Kunst kommerzialisieren!" In Wahrheit handelte es sich darum, Tummelplätze für Kreative zu finden. Keine von den genannten Sparten ist von vornherein Kunst. Aber alles darin kann Kunst sein. Ein Modeschöpfer wie Alexander McQueen, um ein Beispiel zu nennen, war ein Künstler. Was er trieb, war pures Theater.

STANDARD: Man soll sich die Verwertungsgesetze des Kapitalismus zunutze machen?

Morak: Unbedingt.

STANDARD: Und was macht die Verfasserin eines kleinen, widerständigen Gedichts?

Morak: Franz Kafka, der kein ganz Kleiner war, hat in einer Versicherung gearbeitet.

STANDARD: Autorinnen sollen sich also zu Pflichtschullehrerinnen ausbilden lassen?

Morak: Das ist eine mögliche Antwort, man denke an Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Es gibt aber auch die Werbeindustrie. Vielleicht hätte Mozart Telefonmusik komponiert, für Telefonanrufbeantworter und Kaufhäuser. Die Frage lautet: Wie beweglich sind wir im Kopf? Wenn man heute mit der "geförderten" Kunst in der augenblicklichen Verfasstheit der Kunstförderung in Europa Geld verdienen will, dann muss man ein Büro aufmachen. In diesem werden für die Künstler die für sie notwendigen Anträge ausgefüllt, an die EZB, an die EU. In einem solchen Büro beschäftige ich zehn Juristen und einen Lyriker, der die Texte verfasst. Vom Künstler, der die Dienstleistung in Anspruch nimmt, erhalte ich zehn Prozent. So sähe heute das lukrative Geschäft aus. Ich habe während meiner aktiven Zeit daran gearbeitet, dass die Leute, die von der Kunst leben, und zwar schlecht, ihren gerechten Anteil von der Sozialversicherung bekommen.

STANDARD: Werden alle mit einem blauen Auge durch die Pandemie kommen?

Morak: Die Gefahren betreffen nicht nur die Kunst. Wenn ich davon singe, wie die Welt funktioniert, so ist das eben nur ein Teil der Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit ist zu Zeiten unschön. (Ronald Pohl, 1.12.2021)