"Mit dem Talent, winzige Dinge im hohen Gras zu entdecken, hat man einen Bonus", sagt Alice Laciny.

Foto: NHM Wien / Harald Bruckner

Sie sprach schon in ganzen Sätzen, als sie noch auf allen vieren unterwegs war. Die Leidenschaft für kleine Krabbler begleitet die Entomologin auch schon ihr Leben lang. Mit ihrem neuen, kürzlich ausgezeichneten Projekt widmet sich die Zoologin Alice Laciny der Spezies Mensch. Am Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung forscht sie zum Thema "Neurodiversität und Anthropomorphismus in der sozialen Insektenforschung".

STANDARD: Sind autistische Forschende mit einem neutralen Blick und einem starken Detailfokus dazu prädestiniert, typische Fehlleistungen Ihres Fachs wie Anthropomorphismus – also die Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Tiere – zu vermeiden?

Alice Laciny: Das ist die große Frage, die ich beantworten will: Ob ein höherer Grad an autistischen Merkmalen bei Insektenforschenden sich so auswirkt, dass man die Tiere, die man beforscht, weniger menschlich betrachtet. Das ist gerade in der Forschung an sozialen Insekten sehr häufig, man denke nur an die "fleißige Biene" oder die alles regierende Ameisenkönigin. Meine Arbeitshypothese basiert auf aktueller Forschung. Menschen mit autistischen Merkmalen neigen demnach generell weniger zu kognitivem Bias, also logischen Fehlschlüssen und Gedankensprüngen. Dazu gehört die anthropomorphe Interpretation von tierischem Verhalten oder dem unbelebter Forschungsobjekte wie Robotern. Belegt ist, dass besonders extrovertierte Menschen dazu tendieren, Roboter sehr vermenschlicht zu betrachten. Was nicht an der Extroversion per se liegt, sondern am sozial vernetzten Denken. Menschen, die sich sehr zu Hause fühlen in der menschlichen Gesellschaft, wenden diese Muster auch auf andere Kontexte an. Nicht vorsätzlich, sondern als automatische Reaktion des Gehirns, die individuell mehr oder weniger stark ausfällt.

STANDARD: In der Autismusforschung fällt ein starker Fokus auf Männer und Buben auf. Warum ist es Ihnen wichtig, Frauen stärker in den Blick zu rücken?

Laciny: Lange Zeit glaubte man, dass von diesem Phänomen hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, Buben betroffen seien. Und die Autismusforschung ist immer noch stark fokussiert auf Männlichkeit und Kinder. Alle anderen Menschen werden so gut wie ausgeklammert. Als erwachsene Frau wird man eigentlich übersehen. Die speziellen Talente, Fähigkeiten, aber auch Schwierigkeiten, die man mitbringt, werden dann oft nicht im richtigen Kontext gesehen. Viele Frauen aus dem Spektrum haben eine ganze Liste an gesammelten Diagnosen: Angststörung, Depression, Borderline. Kein Arzt will Frauen das Label aufdrücken, weil es so stark assoziiert ist mit Buben. Noch immer werden viermal mehr männliche Autisten diagnostiziert, man geht aber davon aus, dass dabei die diagnostischen Kriterien und die verschiedene Sozialisierung von Mädchen und Buben in unserer Gesellschaft eine große Rolle spielen. In meinem Projekt geht es zwar um Forschende in der Insektenforschung. Aber ich hoffe, damit auch zu unterstreichen, dass die Menschen, die autistische Züge haben, bei weitem nicht nur junge Männer sind.

Laciny war Co-Entdeckerin einer Art explodierender Ameisen – Colobopsis explodens.
Foto: Alexey Kopchinsky

STANDARD: Was sind Ihre ersten Eindrücke aus dem aktuellen Forschungsprozess? Welche Rückmeldungen kommen?

Laciny: Wir verschaffen uns gerade einen Überblick: Wie neurodivers ist die Insektenforscher-Community? Demografisch sind die Teilnehmenden, die wir über soziale Medien wie Twitter international erreichen, breit aufgestellt: von 18 bis 80, von einem ganz niedrigen Autismusquotienten bis zu einem ganz hohen. Von den Geschlechtern her sehr ausgewogen: männlich, weiblich, divers. Die Rückmeldungen finde ich total schön, und sie zeigen, dass das nicht nur mein persönliches Baby ist oder mein Hirngespinst. Sie waren so enthusiastisch, dass ich mich wirklich freue, dass das Projekt gefördert wurde. Viele beschreiben eigene Erfahrungen über ihre Diagnosen mit ADHS oder Autismus. Viele haben das Gefühl, als hätte das ihre wissenschaftlichen Zugänge beeinflusst. Sei es das Talent oder dass es das Leben in der akademischen Welt stressiger gestaltet.

STANDARD: Ist Ihre Forschung auch durch persönliche Bezüge oder Erfahrungen motiviert?

Laciny: Wenn ich über meine Forschung rede, möchte ich, dass der Fokus darauf liegt. Aber natürlich habe ich einen persönlichen Bezug dazu. Die Idee, das Projekt so anzulegen, kommt aus meiner eigenen Erfahrung. Ich habe irgendwann gemerkt: Meine Forschungszugänge sind anders. Ich war kein sonderlich soziales Kind und hatte manchmal Probleme, Anschluss zu finden, war aber irrsinnig an Tieren interessiert, besonders an Insekten und an Sprache. Ich habe sehr früh gesprochen und gelesen. Und hatte das große Glück, dass ich in meinen Interessen gefördert wurde. Im Studium bin ich völlig in die Insektenforschung hineingekippt und hatte das Gefühl: Da bin ich jetzt daheim! Da fühle ich mich nicht komisch, da sind meine Talente etwas wert, der Detailfokus, die Freude an Sinneswahrnehmung und das, was manche Leute kindlich finden, aber als Entomologin nützlich ist. Eine ehrliche Freude daran, die Haare an einem Ameisenbein zu zählen. Nicht nur bei einer Ameise, sondern bei tausenden. Mit dem Talent, winzige Dinge, die glitzern und eine bestimmte Farbe haben, im hohen Gras zu entdecken, hat man einen Bonus – wenn das genau der Käfer ist, den alle schon den ganzen Tag suchen.

STANDARD: Im neuen, in Österreich üblichen Diagnosemanual der Weltgesundheitsorganisation WHO wird ab 2022 Asperger im Autismusspektrum aufgehen, im ICD (International Classification of Diseases) 11 also nicht mehr als separate Diagnose geführt. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Laciny: Im DSM, dem Pendant der USA, gibt es Asperger schon länger nicht mehr als eigene Diagnose. Dass ICD 11 nachzieht, finde ich richtig. Das Phänomen ist multidimensional, geht nicht von null bis 100 Prozent autistisch, sondern hat viele Facetten. Es ist also nicht linear. Die strenge Abgrenzung habe ich als Methode empfunden, autistische Menschen mit weniger Bedürfnis nach Hilfe und Behandlung aus der Diskussion auszugrenzen. Mit dem Scheinargument, man sei ja "nur" Asperger und nicht "richtig" autistisch. Das wird unter anderem relevant, wenn es um Kritik an gängigen Therapieansätzen geht, die problematisch und im Extremfall nachweislich schädlich für Kinder sind. Dass das Spektrum immer noch als Störung klassifiziert ist, ist im Moment akzeptabel und nicht nur negativ, da so viele andere Probleme mit dranhängen können, dass es wirklich störend sein kann im Leben. Und dann benötigt man Unterstützung. Wir existieren nicht in einem Vakuum: In dieser Gesellschaft wird man als autistischer Mensch fast notgedrungen traumatisiert. Daher macht das im gesellschaftlichen Kontext leider noch Sinn. (Nadja Sarwat, 1.12.2021)