In sozialen Medien geht die Behauptung um, die Mutation sei aufgrund der Impfung entstanden. Dagegen sprechen aber mehrere Argumente.

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Schon länger zirkuliert das Gerücht, dass Impfungen die Wahrscheinlichkeit von Virusmutationen erhöhen. Das Auftreten von Omikron hat diese Behauptungen jetzt wieder hochkochen lassen. Dabei ist das höchst unwahrscheinlich und bis jetzt auch noch nie passiert. Auch die neu aufgetretene Variante Omikron ist aus einem Stamm entstanden, der bereits vor einem Jahr, also vor der Verfügbarkeit von Impfungen, präsent war. Warum Mutationen nicht aufgrund von Impfungen entstehen, hat der Genetiker Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Akademie der Wissenschaften dem STANDARD erklärt.

Mutationen entstehen im Grunde ständig. Es handelt sich dabei um Ablesefehler des viralen Genoms bei der Vermehrung der Viren. Das passiert permanent und hat nichts mit Impfen oder anderen Pandemiemaßnahmen zu tun. Nur so viel: Je ungehinderter sich ein Virus ausbreiten kann, desto mehr Gelegenheit hat es zu mutieren. Und: Mutationen sind immer ungerichtet und zufällig, sie passieren nicht bewusst. Das würde ja voraussetzen, dass das Virus ein denkendes Wesen ist.

Tatsächlich ist so ein Ablesefehler im Genom fast immer ein Nachteil für das Virus, es stirbt ab. Doch manchmal ist es auch ein Vorteil, weil sich das Virus dadurch besser vermehren kann. Dann kann sich womöglich eine mutierte Variante durchsetzen, wie es jetzt bei Omikron der Fall zu sein scheint.

Unterdrücktes Immunsystem

"Normalerweise wird ein Patient angesteckt, es entstehen viele Viren und auch Ablesefehler. Die betroffene Person kann aber kraft ihres Immunsystems die Viren bekämpfen und ist typischerweise nach einigen Tagen wieder virusfrei", erklärt Elling einen normalen Krankheitsverlauf. Ist die betroffene Person geimpft, ist die Virusabwehr durch das Immunsystem übrigens noch effizienter: "Idealerweise steckt man sich gar nicht erst an, dann gibt es auch keine Mutation. Steckt man sich dennoch an, wird das Virus schneller bekämpft, man trägt es weniger lang in sich."

Trifft das Virus aber auf das Gegenteil eines guten Immunsystems, etwa jenes eines immunsupprimierten Menschen, kann es passieren, dass diese Person über Monate hinweg positiv bleibt: "Das Virus spielt dann Katz und Maus im Körper. Das Immunsystem bekämpft es, überwindet es aber nicht ganz. Das Virus kann mutieren, das Immunsystem bekämpft die veränderte Variante, und so weiter. Der Körper schafft es nicht, das Virus komplett zu vernichten", beschreibt Elling. Durch diese ständigen Mutationen kann über lange Zeit ein Virus heranreifen, das den Immunschutz besonders gut umgehen kann.

Genau das, nimmt man an, ist bei Omikron passiert. Durch die große Verbreitung von HIV in Afrika gibt es viele Personen, die ein unterdrücktes Immunsystem haben. In diesen Patientinnen und Patienten kann sich das Virus lange halten und dadurch auch nachhaltig verändern. Irgendwann bekommt das Virus – als gereifte Variante – wieder die Oberhand in dem beschriebenen Katz-und-Maus-Spiel, steckt eine weitere Person an, und eine neue Variante kann sich ausbreiten.

Alte Virusvariante

Diese These von der Entstehung in einer immunsupprimierten Person wird untermauert von der Tatsache, dass die Variante B1.1.529 – unter dieser Nummer läuft Omikron – sozusagen die 529. Schwester von B1.1.7 ist, der Alpha-Variante. Omikron ist aus der "gemeinsamen Mutter" B.1.1 entstanden, diese ist aber schon von Alpha, noch vor der Verfügbarkeit der Impfungen, und mittlerweile von der wesentlich infektiöseren Delta-Variante verdrängt worden. Elling meint dazu: "Dieser Vorgänger hat wohl in einer immunsupprimierten Person überlebt und ist jetzt, in mutierter Form, wieder hervorgekommen." Das könnte natürlich auch in einem Tierreservoir passiert sein, doch das ist viel unwahrscheinlicher.

Und es gibt ein weiteres Argument, das klar gegen die These "Mutation wegen Impfung" spricht. Alle Varianten, die sich bisher in irgendeinem Land durchsetzen konnten, sind bereits vor Beginn der Impfungen entstanden. Sowohl von Alpha, als auch von Beta, Gamma und Delta sind die ersten Nachweise bereits Ende vergangenen Jahres belegt, als noch keine Impfungen zur Verfügung standen.

In einem geimpften, normal gesunden Menschen hat das Virus einfach nicht genug Zeit, um sich zu verändern. "Diese Virus-Evolution braucht einen gewissen Raum und ausreichend Zeit, um stattfinden zu können. Und diese Voraussetzungen sind bei vielen ungeimpften Menschen und bei Immunsupprimierten gegeben", betont Elling. Tatsächlich ist Omikron, seit die Impfungen zur Verfügung stehen, die erste Mutation, die das Potenzial hat, sich auszubreiten und möglicherweise auch den bisherigen Immunschutz zu umgehen. Und die geht eben auf die Alpha-Variante bzw. sogar deren Vorgängerin zurück. (Pia Kruckenhauser, 2.12.2021)