Im vorigen Herbst gab es mehr Covid-19-Todesfälle als heuer, dennoch herrscht nun eine höhere Übersterblichkeit.

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Seit die vierte Corona-Welle im Oktober richtig angehoben hat, waren täglich mehrere Dutzend Covid-19-Todesfälle zu beklagen. 1.539 Menschen sind in Österreich zwischen 1. Oktober und 30. November an oder mit dem Virus gestorben. Vergangenes Jahr war die Situation allerdings noch dramatischer: Im Vergleichszeitraum 2020 erlagen 2.385 Menschen der von Sars-CoV-2 ausgelösten Erkrankung – um 55 Prozent mehr als heuer.

In der kumulierten Ansicht wird noch deutlicher, wie konstant sich die Situation im Vorjahr ab Anfang November verschlechterte. 2021 blieb die Kurve deutlich flacher.

Auf den ersten Blick erscheint das paradox, denn das Infektionsgeschehen ist heuer stärker. Während die Sieben-Tage-Inzidenz zum Höhepunkt der zweiten Welle im November 2020 bei 580 haltmachte, trieben die Spitzen der vierten Welle den Indikator auf den nahezu doppelten Wert.

Zum Teil dürfte das dem ausgedehnten Testregime geschuldet sein. Vergangenen Herbst verließen täglich rund 30.000 PCR-Ergebnisse die Labore, heuer überschritt ihre Zahl bisweilen sogar die 500.000er-Marke. Große Testanstrengungen führen zwar nicht automatisch im selben Ausmaß zu mehr entdeckten Fällen – dieses immense Verhältnis dürfte aber zur nun höheren Inzidenz beigetragen haben. Im Vorjahr blieben wohl mehr Fälle unerkannt im Dunkelfeld.

Weniger Hospitalisierte

Auch die Schutzimpfung hat Einfluss auf das Verhältnis zwischen Inzidenz und Todesfällen. Sie verringert den Anteil schwerer Erkrankungen, sodass selbst bei höheren Fallzahlen weniger Menschen gravierende Verläufe erleben. Das legt auch die Hospitalisierungsstatistik nahe. Inklusive Intensivbetten war vergangenes Jahr Ende November das Maximum bei mehr als 4.500 gleichzeitig belegten Spitalsplätzen erreicht, heuer rechnet das Prognosekonsortium mit weniger als 3.500 Betten.

So hat die Impfrate, selbst wenn sie in Österreich nur leicht über den europäischen Durchschnitt hinausreicht, viele Todesfälle verhindert. Ohne Impfung wäre die Lage angesichts der Delta-Mutation, die häufiger zu schweren Verläufen führt als der 2020 vorherrschende Wildtyp, womöglich schon im September eskaliert und hätte die systemkritische Auslastung der Intensivstationen bald dramatisch überschritten.

Mehr Sterbefälle

Weniger Todesopfer und eine geringere Spitalsbelegung als 2020 – ganz bestimmt muss das 2021 auch zu einer geringeren Übersterblichkeit geführt haben. Könnte man meinen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall.

In sieben der der acht letztverfügbaren Kalenderwochen (39 bis 46; 27. 9. bis 21. 11.) starben heuer laut Statistik Austria mehr Menschen als im Vergleichszeitraum des Vorjahrs. 14.281 Sterbefälle wurden in diesen acht Wochen des Jahres 2020 in den Standesämtern registriert, im Folgejahr erhöhte sich diese Zahl auf 14.633.

Dabei war 2020 bereits ein absolutes Rekordjahr. Im langfristigen Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2019 meldete die Statistik Austria in den acht Kalenderwochen 11.439 Todesfälle – selbst wenn man den inzwischen stattgefundenen Bevölkerungszuwachs berücksichtigt, ändert sich an diesen Verhältnismäßigkeiten kaum etwas.

Während des bisherigen Verlaufs der vierten Welle starben also nicht dutzende Menschen weniger pro Woche als im vergleichbaren Abschnitt zweiten Welle, wie es eigentlich zu erwarten war; es waren umgekehrt dutzende mehr. Wie es zu dieser wöchentlichen Übersterblichkeit im dreistelligen Bereich kommen konnte, lässt auch Experten rätseln.

Markus Sauerberg von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der sich seit Pandemiebeginn mit der Exzessmortalität beschäftigt, räumt ein, dass es dafür "bisher keine gute Erklärung gibt. Es werden wahrscheinlich mehrere Faktoren zusammenkommen." Doch auch die naheliegendsten hält er nicht für hundertprozentig überzeugend.

Alter und andere Todesursachen

Ein Grund könnte die veränderte Altersstruktur sein. Ein höherer Bevölkerungsanteil hochbetagter Bürger führt zwangsläufig zu höheren Sterbezahlen. Im langjährigen Vergleich könnte das mit ausschlaggebend sein, so Sauerberg. Gegenüber 2020 könne man diese Ursache aber nicht gelten lassen. Außerdem weise die altersstandardisierte Sterberate der Statistik Austria, die solche Artefakte bereinigen soll, heuer ebenfalls eine noch einmal erhöhte Übersterblichkeit aus.

Eine Überlastung des Gesundheitssystems durch Covid-19-Patienten, die zu erhöhten Sterbeziffern bei anderen Todesursachen wie Krebs oder Unfällen führen kann, sei in Zukunft denkbar. Der momentane Trend der Übersterblichkeit "deutet für mich aber eher auf ein saisonales Phänomen hin. Die Kurve für das Jahr 2021 folgt ja dem Trend 2020", sagt Sauerberg. Zudem war die Intensivbettenauslastung im Vorjahr zu ihrem Höhepunkt größer als heuer; diese Sterbefälle durch andere Todesursachen hätten demnach 2020 sogar in höherem Ausmaß zu beobachten sein müssen, nicht in geringerem.

Andere Viruserkrankungen

Laut Florian Bachner von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), dem nationalen Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen, könnte die Rückkehr anderer Atemwegserkrankungen auf ihr "altes" Niveau eine Erklärung für die derzeitige Übersterblichkeit sein. Im Herbst 2020 sei es gelungen, "herkömmliche respiratorische Viren und viele andere Infektionskrankheiten auf einem Minimum zu halten. Dies ist 2021 nicht mehr in diesem Ausmaß der Fall, bereits im Sommer gab es beispielsweise auffällig viele hospitalisierte Personen mit RS-Viren" (respiratorische Synzytial-Viren, Anm.).

Auch Sauerberg will diese Überlegung nicht ausschließen. "Die Influenza zum Beispiel wurde im vorherigen Jahr wegen der Hygienemaßnahmen weniger beobachtet" und komme nun möglicherweise verstärkt zurück. Allerdings: Es gebe momentan noch keine Hinweise auf eine starke und verfrühte Grippewelle. Auf der Seite der Medizinischen Universität Wien steht: "Weiterhin keine Influenzavirusaktivität in Österreich". In der gesamten Saison 2021/22 wurde erst eine einzige positive Probe der "echten" Grippe registriert.

Unerkannte Covid-19-Fälle

Für den am wenigsten wahrscheinlichen Fall hält Sauerberg, dass eine große Zahl an Covid-19-Todesfällen unerkannt blieb und nicht in die offizielle Statistik einging. In den Krankenhäusern werden Menschen vor der stationären Aufnahme getestet, dort sei das bis auf Ausnahmefälle auszuschließen. "Es könnten natürlich Menschen sein, die zu Hause versterben. Das ist aber rein spekulativ und eigentlich nicht besonders plausibel", sagt Sauerberg.

So bleibt die Übersterblichkeit ein Phänomen ohne wirkliche Erklärung. Mit einer solchen ist frühestens kommendes Jahr zu rechnen, wenn die Statistik Austria neben der reinen Sterbefallzahl auch die Todesursachendatenbank für 2021 aktualisiert. (Michael Matzenberger, 2.12.2021)