Der frühere Vizekanzler und Außenminister Deutschlands, Joschka Fischer, blickt in seinem Gastkommentar sorgenvoll nach China. Das Land sei im "Übergang von einem autoritären System zu einer personalen Diktatur".

Verändert das politische System nachhaltig: Chinas Parteivorsitzender Xi Jinping.
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Große Dinge werfen ihren langen Schatten auf China voraus. Zwar bedarf es noch der letzten, quasi nur noch formalen Entscheidung des zuständigen Parteigremiums der Kommunistischen Partei Chinas, doch dann wird sich das politische System in China wesentlich ändern. Xi Jinping, der Parteivorsitzende und Staatspräsident und neuerdings auch "Steuermann", hat entschieden, dass es von Deng Xiaoping und seinen politischen Reformen nach den Schrecken der Kulturrevolution – wie der Amtszeitbegrenzung des obersten Führers und des Prinzips der kollektiven Führung – zurück zur Alleinherrschaft unter Mao Zedong gehen soll.

Diese Veränderungen mögen, vom Westen aus betrachtet, wie interne machtpolitische Kleinigkeiten erscheinen, denn an der Alleinherrschaft der KP wird nicht gerührt und von dem Beginn einer echten Demokratisierung lässt sich nicht im Entferntesten sprechen, aber für China, gemeinsam mit den USA eine der beiden Supermächte des 21. Jahrhunderts und in absehbarer Zeit die größte Volkswirtschaft der Welt, wird dies eine große Veränderung bedeuten, zurück in die unselige Vergangenheit der absoluten Herrschaft eines Mannes. Dieser Rückschritt markiert den Übergang von einem autoritären System zu einer personalen Diktatur.

Und angesichts des enormen Macht- und Bedeutungszuwachses des Landes in diesem Jahrhundert wird diese Veränderung auch für den Rest der Welt von großer Wichtigkeit sein.

Maßlose Korruption

Der chinesischen Kommunistischen Partei scheint es fürs Erste gelungen zu sein, ihre Einparteienherrschaft mit dem Konsumkapitalismus westlicher Prägung zu verbinden. An die Stelle von kommunistischer Ideologie traten Massenwohlstand und individueller Reichtum, und so gelang es, ein erfolgreiches hybrides System aus Markt- und Staatswirtschaft zu schaffen, unter der alleinigen und absoluten Kontrolle der KP.

Freilich hatte diese forcierte Entwicklung Chinas von einem Entwicklungsland hin zur führenden Industrienation des 21. Jahrhunderts auch ihre Schattenseiten: Unter den kommunistischen Funktionären explodierte eine maßlose Korruption, und die Kluft zwischen Arm und Reich erreichte unter der Herrschaft der KP skandalöse Dimensionen.

Gewiss, solange die KP glaubhaft an dem Versprechen des sozialen Aufstiegs für alle und an der Einheit des Reiches (Xinjiang, Hongkong, Taiwan) und dem weiteren machtpolitischen Aufstieg Chinas festhalten kann, droht nicht wirklich eine innenpolitische Gefahr für die Stabilität ihrer Herrschaft. Aber offensichtlich sah die Führung die zersetzende Korruption, die skandalöse Verteilung des Reichtums, die unter Donald Trump begonnene Konfrontation mit den USA und einen zunehmend stärker werdenden Privatsektor in der Wirtschaft als ein nicht mehr hinzunehmendes Risiko für die Stabilität der Herrschaft der Partei an. Es musste gehandelt werden.

Zu erfolgreiche Privatunternehmer

Erfolgreiche Privatunternehmer, vor allem im Big-Tech-Sektor, etwa Jack Ma von Ant/Alibaba, bekamen aus Sicht der KP-Führung zu viel Macht und waren zudem zu stark abhängig vom US-amerikanischen Kapitalmarkt. Sie drohten, das staatliche und damit auch Parteimonopol über den Finanzsektor zu gefährden, wagten gar öffentlich Widerspruch, und gemeinsam mit der nach wie vor existierenden Abhängigkeit wichtiger und großer privater Unternehmen vom US-amerikanischen Kapitalmarkt wurde damit offensichtlich aus Sicht der Führung in Peking eine rote Linie – die absolute Herrschaft der KP und ihre absolute Kontrolle über Wirtschaft, Staat und Gesellschaft – überschritten, was aus Sicht der Führung eine Kurskorrektur zwingend erforderlich machte.

Wie sich die Leistungsfähigkeit des chinesischen Hybridmodells mit einem politisch geschwächten Privatsektor und einem seit längerer Zeit maroden Staatssektor entwickeln wird, bleibt allerdings abzuwarten. Wird diese Kurskorrektur China schwächen? Oder wird sie erfolgreich sein? Dann bekäme der Westen ein internes Problem in Gestalt einer erneuerten Regulierungs- und Umverteilungsdebatte.

"Ein machtpolitischer und wirtschaftlicher Gigant wie China unter der personalen Herrschaft eines einzigen Mannes, das spricht nicht gerade für die Modernität des politischen Systems des Landes."

Das chinesische hybride Entwicklungsmodell, wie es seit Deng Xiaoping geschaffen worden war, bedurfte, folgt man Xi Jinping, der grundsätzlichen Neujustierung und sozialen Neuausrichtung, und das in einer Zeit verschärfter außenpolitischer Konfrontation mit den USA und einer um sich greifenden objektiven Schwäche des bisherigen ökonomischen Wachstumspfades. China schreibt zwar noch beachtliche Wachstumszahlen, verglichen mit den alten Ökonomien des Westens, und hat sich auch sehr schnell von der Covid-19-Krise erholt. Ob dieses sich in Zukunft relativ abschwächende Wachstum allerdings für die chinesischen Ziele und Ambitionen ausreichen wird, bleibt die große Frage für die Zukunft, zumal sich die Demografie mit einer immer älter werdenden Bevölkerung zunehmend belastend auswirken wird.

In dieser Lage setzt der oberste Führer Chinas, Xi Jinping, auf den Übergang von dem Prinzip der kollektiven Führung auf die personale absolute Herrschaft eines Mannes ohne Zeitbegrenzung, mit der man in der Kulturrevolution bereits schlimme Erfahrungen gemacht hat.

Wenig berechenbarer Partner

Ein machtpolitischer und wirtschaftlicher Gigant wie China unter der personalen Herrschaft eines einzigen Mannes, das spricht nicht gerade für die Modernität des politischen Systems des Landes. Die Schwäche des politischen Systems Chinas geht genau von dieser absoluten Machtkonzentration in einer Person an der Spitze aus, wie das Beispiel Maos zeigt. Er griff mittels der Kulturrevolution die kommunistische politische Elite an und wollte sie zerstören, um sie so erneuern zu können. Nur, das geschah in den 60er-Jahren, als China noch ein bitterarmes Entwicklungsland war. Heute schickt sich China an, zu einer globalen Supermacht zu werden. Die Herrschaftsstruktur und die Realität und Ambitionen Chinas passen nicht wirklich zusammen, und genau darin liegt das größte Instabilitätsrisiko des Landes.

Diktaturen erscheinen auf den ersten Blick als entschlussfreudiger und durchsetzungsstärker als der sehr viel langsamere und mühseligere demokratische Prozess, jedoch der Eindruck täuscht. Denn Diktaturen sind in der Regel angstgetrieben; die Angst um den Machterhalt bestimmt sie. Je mehr eine Diktatur aus dieser Angst heraus die Macht zentralisiert, am Ende gar auf eine Person, umso instabiler wird das ganze Gebilde. Das genaue Gegenteil, nämlich die Verbreiterung der Machtbasis, schafft Systemstabilität. Unter Xi Jinping ist China dabei, sich von dieser Erkenntnis zu verabschieden. Es wird dadurch zu einem weniger berechenbaren Partner werden. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 1.12.2021)