Barrie Kosky: "Ich brauche lange Probenzeiten, bei denen alle da sind, also niemand für eine Woche beurlaubt wird."

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"Unerschöpflich", findet Regisseur Barrie Kosky, seien die Oper und ihre Zentralgestalt Don Giovanni. Dennoch wagt er sich an den Schwerenöter, am Sonntag ist zu sehen, wie Kosky Giovanni untergehen lässt (ORF 3). Dass der Lockdown eine echte Premiere verhindert, findet er schrecklich und schwierig für die Darsteller und ihn selbst. Seine Arbeiten leben vom "direkten Kontakt", so Kosky, der auf eine Corona-freie Zukunft hofft. Vor allem für seine hinkünftigen Inszenierungen an der Wiener Staatsoper: Mozarts Così fan tutte und Figaro.

STANDARD: 2020 gab es Ihre "Macbeth"-Version an der Staatsoper. Warum waren Sie nicht da, um sich am Ende dem Publikum zu stellen?

Kosky: Ach, so etwas wird nur in Wien zum Thema! Ich hatte Anrufe von wegen: "Aha, Sie haben Angst vor dem Wiener Publikum!" oder: "So, so, Sie haben keine Zeit für uns in Wien!" Alles Quatsch! Als mich Bogdan Roščić fragte, ob meine Züricher Produktion nach Wien kommen könnte, habe ich zugestimmt. Klar war aber, dass die Regie von der Assistenz erarbeitet wird. Ich war wegen Falstaff vertraglich an Aix-en-Provence gebunden, habe aber mit Anna Netrebko in Wien an drei Tagen proben können. Die Premiere war jedoch an einem Tag, an dem in Aix Chorproben stattfanden, die ich nicht versäumen durfte. Das war der Grund, nicht Angst.

STANDARD: Ihre erste Staatsopernerfahrung mit "Lohengrin" war aber keine angenehme. Da hätte man schon vermuten können, dass Sie Ihrer Rückkehr nach Wien gerne fernbleiben ...

Kosky: Meine Erfahrung mit einigen der männlichen Sänger und dem Dirigenten war nicht so glücklich – das stimmt. Das Ganze ist jedoch 16 Jahre her! Als mich Roščić fragte, war ich mir natürlich nicht so sicher ... Er meinte jedoch, das heutige Wien sei mit dem von damals nicht vergleichbar. Auch, wie er die Staatsoper neu denkt, finde ich großartig. Ich habe auch für Giovanni, Cosi und Figaro zugesagt, sagte aber: Ich will junge Sänger, keine Diven. Ich brauche lange Probenzeiten, bei denen alle immer da sind, niemand für eine Woche beurlaubt wird. Und Wiederaufnahmen müssten in Premierenbesetzung stattfinden. Wenn das nicht geht, muss es Proben geben. Roščić meinte, dies sei kein Problem.

STANDARD: Was ist Ihr Don Giovanni?

Kosky: Er ist ein Kind von Dionysos, ist Eros und Thanatos! Es geht um Ekstase, Verwandlung, Maskerade, Giovanni ist der einsame Zerstörer! All diese Elemente sind im Spiel, nur: Es hilft bei den Proben nichts, dem Bariton zu sagen, dass er eine Projektionsfläche für Ideen sei. Man muss konkret arbeiten, ich sagte in der ersten Probe: "Ein Diener wartet auf seinen Meister in der Dunkelheit, es ist etwas passiert. Erstmals ging in Giovannis Leben etwas schief." So ist der Anfang der Geschichte, die jedoch auf drei Ebenen gestaltet werden muss. Da ist die fantastische Story, da ist Mozarts Blick auf das Leben und die Beziehungen. Und dann muss alles aus dem Text und der Musik kommen. Es gibt übrigens keine Hölle, keinen Nebel, keine Dämonen. Das Ende muss sich im Giovannis Körper spiegeln, nicht im Bühnenbild.

STANDARD: Ein anderer Titel für die Oper?

Kosky: Eigentlich müsste die Oper "Don Giovanni und sein Diener Leporello" heißen. Deren Beziehung ist interessant. Sie sind ein bisschen wie Wladimir und Estragon bei Becket oder Don Quijote und Sancho Panza. Giovanni ist auch eine Vaterersatzfigur für Leporello, überall ist ja Einsamkeit, nirgends sind Mütter. Es ist eine mutterlose Oper.

STANDARD: Ist "Giovanni" auch für Sie eine Projektionsfläche? Was erfährt man über Barrie Kosky durch die Inszenierung?

Kosky: Das müssen Sie interpretieren.

STANDARD: Ihr Ansatz lässt vermuten, dass Sie eine Psychoanalyse durchgemacht haben.

Kosky: Ja, natürlich! Seit zehn Jahren, es ist wichtig für mich.

STANDARD: Wollen Sie konkreter werden?

Kosky: Nein, es ist doch so: Bezogen auf die Inszenierung kommen ja sehr viele Ideen von den Darstellern. Regietheater ist so ein furchtbares Wort, kein Theater ist Regietheater.

STANDARD: Was müssen Sänger oder Sängerin mitbringen, damit Sie gerne mit ihnen arbeiten?

Kosky: Gut singen, Fantasie haben und ein komplexes Innenleben! Das drückt sich dann in der Stimme und in der Bewegung aus. Und sie müssen Spaß haben.

STANDARD: Premiere ohne Publikum, herrlich?

Kosky: Ein fürchterliches Déjà-vu! Es ist meine siebente Premiere dieser Art, und es ist eine der schlimmsten Situationen für Regisseure und Darsteller – grauenhaft, tragisch! Aber natürlich ist es mir wichtig, dass es zumindest so stattfindet.

STANDARD: Die Buhs werden Ihnen allerdings sicher nicht abgehen …

Kosky: Diese Reaktionen sind wichtig für das Publikum und das Feuilleton, nicht für mich. Mich interessiert eher die siebente Vorstellung einer Inszenierung oder die Wiederaufnahme. Da sieht man die Substanz einer Arbeit. (Ljubiša Tošić, 2.12.2021)