Niederösterreichs Johanna Mikl-Leitner hat Gewicht in der ÖVP.

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Mit dem Abgang von Sebastian Kurz dürfte nun auch die von ihm federführend kreierte türkise Bewegung am Ende sein. Dass sich innerhalb der ÖVP die Machtverhältnisse zu verschieben beginnen, war jedoch bereits in den vergangenen Wochen absehbar.

Als Alexander Schallenberg von Kurz das Bundeskanzleramt übernommen hatte und Kurz zum Klubobmann degradiert wurde, veränderte sich die Familienaufstellung in der ÖVP radikal.

Die Partei war bis dahin auf Kurz ausgerichtet, die Macht – auch formell – bei ihm zentriert. Denn Kurz hatte seinerzeit die Übernahme des Parteivorsitzes an Bedingungen geknüpft: Er verlangte ein Durchgriffsrecht auf Wahllisten, freie Hand für Koalitionsentscheidungen und die alleinige Entscheidung über Schlüsselposten in der Partei.

Die Parteigranden in den Ländern willigten ein und trugen in der Folge alles an türkiser Politik ihres jungen Obmannes mit. Solange Kurz erfolgreich und der Garant für eigene Wahlsiege in den Ländern war, standen diese hinter ihm. Sie profitierten schließlich auch selbst von seinen Erfolgen.

Absetzbewegung in der Partei

Doch bereits im Zuge der Justizermittlungen gegen Kurz hatte in der Volkspartei eine Absetzbewegung eingesetzt. Da beteuerten die ÖVP-Landeshauptleute einer nach dem anderen, dass sie schon immer mehr schwarz als türkis waren.

Als Kurz kürzlich versucht hatte, mit einer Goodwill-Tour durch die Länder die Parteigranden wieder auf seine Seite zu ziehen, musste er erkennen: Da ist nichts mehr zu holen. Die Parteifreunde in den Bundesländern hatten für ihn keine Zeit mehr, die Comeback-Tour versandete. Und Kurz musste feststellen: Seine Landeshauptleute hatten wieder das Kommando übernommen.

Schallenberg konnte in der Folge die Alleinentscheidungsrechte, die Kurz von den Landeshauptleuten bei seiner Inthronisierung abverlangt hatte, nicht mehr mit Leben erfüllen. Die Länderchefs hatten Fakten geschaffen und das Machtvakuum nach dem Kurz’schen "Zur-Seite-Treten" gefüllt.

Keine Machtbasis

Es war direkt unangenehm anzusehen, wie Schallenberg wegen der Corona-Maßnahmen bei der Landeshauptleutekonferenz in Tirol antanzen musste und dort eigentlich bloßgestellt wurde. Noch auf dem Weg an den Tiroler Achensee blieb Schallenberg bei seiner Position: Es werde keinen Lockdown für Geimpfte in Österreich geben. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits mehrere Landeschefs dafür ausgesprochen. Schallenbergs Meinung hatte keine Relevanz mehr.

Und nach nur wenigen Wochen Kanzlerschaft stellte Schallenberg am Donnerstag das Amt wieder zur Verfügung. Karl Nehammer soll übernehmen. Zum engen Kreis der Kurz-Vertrauten zählt der Innenminister, der die Machtbasis im schwarzen Niederösterreich verortet, jedenfalls nicht. Vielmehr soll sich Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner für Nehammer starkgemacht haben. Die Personalrochade zeigt also auch das Gewicht der schwarzen Landesparteiobleute.

In welchem Ausmaß sie mit dem Kurz-Zirkel abgeschlossen haben, demonstrierten auch die besonders nüchternen Reaktionen. Tirols Landeschef Günther Platter bezeichnete die Entscheidung als "letzten Endes auch nachvollziehbar". Sein steirisches Gegenüber Hermann Schützenhöfer sagte, Kurz habe die Volkspartei in "lichte Höhen" geführt. Doch die Lage habe sich "erheblich geändert". Schützenhöfer respektiere die Entscheidung von Kurz, die "letztlich unausweichlich war".

Lichte Höhen

Solch lichte Höhen erreichte im vergangenen Jahr eine Landesorganisation, die auf der Österreich-Karte der Volkspartei ganz von Beginn an türkis strahlte: die Wiener ÖVP. Mit neuem türkisen Anstrich fuhr einer der engsten Kurz-Vertrauten, Finanzminister und Landesparteichef Gernot Blümel, bei der Wien-Wahl 2020 ein Plus von elf Prozent ein und die Partei aus ihrer Krise.

Trotzdem rissen die Gerüchte rund um eine Ablöse des Parteichefs in der Hauptstadt nicht ab. Als Kurz seinen Rücktritt bekanntgab, wurde daher sofort darüber gemutmaßt, ob Blümel mit Kurz geht. Da hieß es noch aus der Wiener ÖVP, ein Rücktritt Blümels sei "im Bereich der Spekulationen angesiedelt". Am Abend verkündete Bümel seinen Rücktritt: "Es war mit eine Ehre", schrieb Blümel auf Facebook. In der Funktion als Wiener ÖVP-Chef folgt ihm zumindest interimistisch der Nationalratsabgeordnete Karl Mahrer nach. Er soll am Freitag in den Landesparteigremien gewählt werden.

Türkises Zwischenspiel?

Heißt das alles nun, dass die ÖVP nach dem türkisen Kurz-Intermezzo wieder zur alten schwarzen Volkspartei wird? Dass es sozusagen zu einem Re-Branding kommt?

Der an der Universität Wien forschende Politikwissenschafter und Experte für europäische christlich-soziale Parteien, Fabio Wolkenstein, hält eine Rückfärbung von Türkis auf Schwarz, eine ideologische zu den alten christlich-sozialen Wurzeln, zu einer schwarzen ÖVP, für nahezu ausgeschlossen. Das sei nicht mehr zeitgemäß. Schwarz sei die Farbe der alten Generation in der ÖVP. "Die Jungen fangen damit wenig an", sagt Wolkenstein.

"Noch liegen die Hintergründe für den Rückzug von Kurz ja ziemlich im Dunkeln. Es muss aber etwas Schwerwiegendes gewesen sein, für diese weitreichende Entscheidung. Sein Kind als Begründung ist mir zu wenig", sagt Wolkenstein im Gespräch mit dem STANDARD. Kurz habe in der Abschiedsrede eigentlich keinen triftigen Grund für den Rückzug genannt.

Personen oder Positionen

Ob die die türkise Bewegung mit dem Abgang von Kurz entmachtet wurde? "Es wird sich nun herausstellen, ob die türkise ÖVP nur ein künstliches Konstrukt war, das von Personen getragen wurde, oder ob es auch inhaltliche Neukonzeptionen enthielt. Wenn die türkise Partei tatsächlich nur an Personen gekoppelt war, dann ist die Kurz-ÖVP jetzt Geschichte und nicht mehr tonangebend", sagt Wolkenstein.

Ob nun Nehammer die Fragmentierung der Partei, die Machtzentren in den Ländern wie Kurz überwinden könne, sei "eine weitere spannende Frage". Für die ÖVP sei es jedenfalls ein schwerer Schlag, dass sie ihr Zugpferd verloren hat. Aber: Never say never again. Wolkenstein hält es nicht für ausgeschlossen, dass Kurz nach einigen Wanderjahren in der Ökonomie in die Politik zurückkehren könnte: "Er ist 35 Jahre alt und hat noch Zeit genug, seine Rückkehr vorzubereiten", sagt Wolkenstein. (Oona Kroisleitner, Walter Müller, 3.12.2021)