Wer an den Abbruch eines Hauses denkt, hat meist Abrissbirne, Bagger und Schlaghammer im Kopf. Tatsächlich sind das aber die letzten Geräte, die zum Einsatz kommen. Was neugierige Nachbarn und interessierte Spaziergänger häufig nicht sehen, ist, dass Handwerker die Innenräume bereits Wochen zuvor Stück für Stück zerlegen. Sie klopfen Fliesen behutsam aus dem Boden, ziehen Kupferdrähte aus Wänden und drehen jede einzelne Glühbirne aus der Fassung.

Sie folgen damit dem Grundsatz des Urban Mining, wonach bei einem Hausabriss so viele Materialien wie möglich erhalten und recycelt werden sollen. Um neben einem ökologischen auch sozialen Mehrwert zu generieren, beschäftigt das Unternehmen Baukarussell für diese Arbeiten Menschen, die ansonsten keinen Job mehr finden würden.

Die Idee: In Zusammenarbeit mit sozialwirtschaftlichen Partnerbetrieben (siehe Infobox) sollen Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt finden. Während der Baustellentätigkeit sind sie als Transitarbeitskräfte bei den Partnerbetrieben auf Kollektivvertragsbasis angestellt. Die Dauer betrage meist sechs Monate, hänge aber vom Projekt ab, erklärt Markus Meissner, Ressourcenmanager und Leiter von Baukarussell.

Sogenannte Demonteure zerlegen Gebäude in ihre Einzelteile, bevor sie abgerissen werden. Daraus ergeben sich neue Geschäftszweige und Jobchancen.
Foto: Harald A. Jahn/Baukarussell

Wiedereinstieg ins Berufsleben

Damit die Menschen der Wiedereinstieg ins Berufsleben nicht überfordert, stehen ihnen erfahrene Schlüsselkräfte zur Seite. Außerdem werden entsprechende Schulungen angeboten. Transitarbeitskräfte lernen etwa, Zwischendecken zu entfernen, Leuchtstoffröhren für die Entfrachtung vorzubereiten, Parkett unversehrt auszubauen und in Zuge dessen auch Spezialwerkzeug wie elektrische Kabelscheren zu bedienen. Vorerfahrung sei prinzipiell nicht erforderlich.

"Im Mittelpunkt stehen die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und das Selbstbewusstsein der Arbeitskräfte zu stärken", sagt Meissner. Dafür stehe auch individuelles Coaching und Bewerbungstraining für die Zeit nach dem jeweiligen Projekt zur Verfügung.

Recycling von Materialien

Seit 2016 verpflichtet die Recycling- und Baustoffverordnung Abrissfirmen, Häuser zunächst in den Rohbauzustand zurückzubauen und den daraus entstandenen Bauschutt und Müll zu trennen, sodass die Materialien recycelt werden können. Erst danach dürfen die Häuser abgerissen werden.

Auf soziales Urban Mining setzen die wenigsten. Stattdessen verwenden viele Firmen Sortieranlagen, erklärt Thomas Romm, Architekt und Gründungsmitglied von Baukarussell. Darunter leide aber die Wertschöpfung eines Abrisses. Denn je mehr und genauer nach Rohstoffen gesucht werde, desto mehr Material können recycelt werden.

Dafür braucht es das Fingerspitzengefühl der bereits erwähnten Handwerker. Maschinen können keine Stiegengeländer im Ganzen abmontieren, kaputte Leuchtstoffröhren in ihre Einzelteile zerlegen und Waschbecken, Badewannen und sogar Fensterscheiben aus den Häusern tragen.

70 Jobs pro 1.000 Tonnen Material

Dass der Arbeitsmarkt für sogenannte Demonteure gegeben wäre, darauf lässt eine Studie von Preuse, dem europäischen Dachverband für sozialwirtschaftliche Betriebe, schließen. Dieser zufolge schaffen 1.000 Tonnen recycelte Güter rund 70 Arbeitsplätze. Zum Vergleich: Laut eigenen Angaben wurden bei der ersten Baustellenräumung von Baukarussell – dem ehemaligen Coca-Cola-Areal in Wien-Favoriten – 450 Tonnen Material recycelt; davon 5000 Dachplatten und 3.000 Quadratmeter Dachbegrünung.

Dieses Potenzial gelte es auszuschöpfen, sagt Meissner. Allein bei Baukarussell hätten seit diesem ersten Projekt 130 Menschen temporäre Anstellung gefunden. Langzeitarbeitlose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren geht laut Romm Hand in Hand mit dem Konzept der Kreislaufwirtschaft.

Auch die Mitarbeiter würden von Arbeitserfahrung auf den Baustellen profitieren. Einerseits werden langzeitarbeitslose Personen bestärkt, berufliche Herausforderungen anzunehmen, andererseits steigen die Berufschancen im Bereich Kreislaufwirtschaft, sofern Erfahrung bestehe. Meissner: "Langzeitarbeitslose Menschen leben oft mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit, diesem wirken soziale Beschäftigungsprojekte entgegen." (Julia Beirer, 6.12.2021)