Mundschutz, Brille und Schutzanzug: Für das Pflegepersonal wird jede Schicht zur unfreiwilligen Schwitzkur. Covid-19-Patienten sehen auf der Station oft wochenlang kein unverhülltes Gesicht.

Foto: Werner Dedl

Bernhard Mayr lässt seinen Blick durch das große Panoramafenster, über den Traunsee, hin zum angeschneiten Grünberg schweifen. "Vielleicht schaffe ich heute noch eine Tour." Oft hat der leidenschaftliche Wanderer und Skitourengeher in den vergangenen Monaten diesen Satz gesagt. Und mindestens so oft sind dann Skier und Schuhe im Keller geblieben.

Eigentlich wollte es der Leiter der Abteilung Innere Medizin am Salzkammergut-Klinikum Gmunden beruflich ein wenig ruhiger angehen: "Als meine drei Kinder mit der Schule fertig waren und ihr Studium begonnen haben, haben ich aus Dankbarkeit drei Kerzen angezündet und mir eigentlich vorgenommen, künftig einen Tag weniger zu arbeiten." Doch die Pandemie hat die angestrebte Neudefinition der Mayr’schen Work-Life-Balance dramatisch ins Gegenteil verkehrt. Noch nie in seinem Leben habe er so viel gearbeitet wie im vergangenen Jahr: "Ich bin sieben Tage pro Woche 24 Stunden erreichbar."

Gleiche Behandlung im Notfall

Dem 53-jährigen Mediziner merkt man den beruflichen Dauerstress auf den ersten Blick nicht an. Dabei sei die Situation aktuell "unglaublich dramatisch". 50 Corona-Patienten habe man aktuell allein am Standort Gmunden zu versorgen, sieben davon würde eine intensivmedizinische Versorgung brauchen. Von den 27 Intensivpatienten, die aktuell an den drei Salzkammergutklinikum-Standorten Vöcklabruck, Gmunden und Bad Ischl versorgt werden, sind lediglich fünf geimpft.

Mayr versucht dieses Faktum auszublenden: "Es darf für uns in der Medizin und in der Pflege keine Rolle spielen, ob der Patient geimpft oder ungeimpft ist. Jeder muss die gleiche Behandlung bekommen."

Aber natürlich könne man nicht verhindern, dass Emotionen hochkommen: "Mich ärgern Demonstrationen der Impfgegner – besonders solche gegen das, was wir hier machen, gegen unseren Versuch, den Menschen auch mit einer Impfung zu helfen. Das tut natürlich weh. Aber in der Akutsituation zählt das nicht." Er versuche, das Thema Corona in der Freizeit über längere Phasen bewusst auszublenden.

Auf dem Weg zur Intensivstation hat der Primar den Weg durch die Unfallchirurgie gewählt. Fast gespenstisch still ist es hier. Mayr öffnet die Tür zu einem leeren Patientenzimmer: "So schaut es im Moment aus. Die Station ist gesperrt, wir müssen all unsere Kräfte für die Behandlung schwerstkranker Corona-Patienten aufwenden."

Auf der Corona-Normalstation laufen die organisatorischen Fäden bei Barbara Schmid zusammen. 25 Jahre ist die Stationsleiterin bereits im Krankenhaus tätig. Doch derzeit arbeiten selbst die erfahrensten Pfleger und Pflegerinnen abseits jeglicher Routine. Jeden Tag startet Schmid aktuell mit einem Gedanken im Kopf: "Geht es sich heute noch aus?" Reichen die Betten? Jeden Tag plage sie die große Sorge: "Kriegen wir es noch einmal hin?"

Kein Abschied möglich

Die Belastungen für das Pflegepersonal seien enorm. "Wir arbeiten eigentlich tagtäglich am Limit. Zur körperlichen Schwerstarbeit in spezieller Schutzkleidung kommt die psychische Belastung", erzählt Schmid.

Der Tod gehöre zu ihrem Beruf dazu, aber die Menge der Patienten, die verstirbt, sei enorm belastend. "Bei uns sterben auf der internen Abteilung im Monat zwischen zehn und fünfzehn Patienten. Jetzt aber sterben zehn bis fünfzehn Menschen in einer Woche."

Vor allem die Verabschiedung sei ein sehr schwieriger Moment: "Die Möglichkeit der Sterbebegleitung durch Angehörige gibt es derzeit nur sehr eingeschränkt. Wir haben ja hochinfektiöse Patienten. Nach dem Tod kommt der Leichnam in einen luftdicht verschlossenen Plastiksack, und du ziehst den Reißverschluss zu. Und das war’s. Wer das nicht erlebt hat, kann sich nicht ansatzweise vorstellen, wie belastend so ein Moment ist."

Tod ist allgegenwärtig

Primar Mayr hat inzwischen ein Anruf aus der Intensivstation erreicht. Raschen Schrittes dorthin bringt Mayr eine, für medizinische Laien durchaus ungewöhnliche, Perspektive ins Spiel. Dramatisch sei, sagt der Mediziner, dass der Tod insbesondere auf den Intensivstationen so allgegenwärtig ist: "Normal stirbst du als Patient in einem Intensivbett, dank der enormen medizinischen Versorgung, nicht. Jetzt stehen wir aber vor der völlig neuen Situation, dass oft auch sehr junge Corona-Patienten in einem so schlechten Zustand sind, dass selbst die beste medizinische Versorgung ein Leben nicht retten kann."

Der lange Gang, über den der Primar eilt, mündet in einer sogenannten "Internen Überwachungsstation". Eine Vielzahl von Bildschirmen befindet sich in der Kommandozentrale. Zwei hochkonzentriert arbeitende Intensivschwestern haben die lebenserhaltenden Parameter der schwerkranken Patienten stets im Blick.

Gefühl der Beklemmung

Aufallend ist hier vor allem eines: die unglaubliche Ruhe. Keine augenscheinliche Hektik, kein offensichtlicher Alarmismus. Vielmehr Stille. Vielleicht ist es gerade das Fehlen jeglicher Geräusche, das auf Außenstehende so bedrückend wirkt – das einem hinter der ohnehin schon einschränkenden Maske endgültig das Gefühl der Beklemmung gibt. Man meint zu spüren, wie das Leben langsam entschwindet und der Tod hereindrängt.

Die diensthabende Schwester zieht langsam eine Jalousie in die Höhe. Hinter einer Glaswand liegt eine betagte Corona-Patientin. Eine nötige Intubation war medizinisch nicht möglich. Deshalb trägt die Patientin jetzt eine Atemmaske. Durch das teilweise beschlagene Sichtfenster der Atemmaske blicken große, dunkle, angsterfüllte Augen. Man merkt in ihrem Blick, wie die Frau um Atem ringt. Laut ärztlicher Prognose werden es wohl die letzten, schweren Atemzüge sein.

"Unerträglich"

Nur eine Schleuse weiter liegt die eigentliche Intensivstation. Hier besucht Primar Mayr einen weiteren Patienten. Er liegt in einem der sieben Corona-Intensivbetten und ist zwischen all den Überwachungsgeräten und Schläuchen kaum zu erkennen.

"Für viele ist der einzige Weg hier heraus der Tod", sagt Stationsleiter Werner Haider. Der Ohlsdorfer hat an diesem Tag, wie so oft in den vergangenen Monaten, eine Zwölf-Stunden-Schicht. Der diplomierte Krankenpfleger sagt, er habe nach 30 Jahren im Job "nie mit so einer Extremsituation gerechnet". Nachsatz: "Dein Leben dreht sich nur mehr um Corona. In der Arbeit, in der Freizeit. Mich würde echt die Scheidungsrate beim Pflegepersonal interessieren."

"Richtig unerträglich" sei für ihn das politische Zögern gewesen: "Wir sehen die Zahlen, wir sehen die Kranken. Wir wissen, was es heißt, wenn im September nichts passiert, im Oktober immer noch nichts passiert und man im November beginnt nachzudenken." Zu den zahlreichen Impfgegnern, die derzeit auf die Straße gehen, fehlen dem leitenden Pfleger "eigentlich fast die Worte". Haider: "Das ist wie ein Paralleluniversum. Ich kann es nicht nachvollziehen. Es ist einfach nur schmerzlich und, ja, es ärgert mich." In solchen Phasen zwischen Wut und Unverständnis greift Werner Haider gerne zum Kopfhörer. Seine inneren Batterien lädt er mit der Musik von Pink Floyd am besten auf.

Für Primar Bernhard Mayr ist es an diesem Nachmittag beim Fernblick auf den Berg geblieben. Dem Ausgleichssport stand aber dieses eine Mal nicht Corona, sondern nur der Regen im Salzkammergut im Weg. (Markus Rohrhofer, 4.12.2021)