Der Kulturwissenschafter Christoph Landerer schreibt in seinem Gastkommentar über Aufstieg und Fall von Sebastian Kurz. Diesen haben vor allem "sein einmaliges Talent, zentrale Elemente der FPÖ-Programmatik in die politische Mitte zu integrieren", ausgezeichnet.

Illustration: Fatih Aydogdu

Am Ende muss es sich für Sebastian Kurz wie ein Befreiungsschlag angefühlt haben. Ihm, der politische Vorgänge immer so gründlich wie möglich lenken und kontrollieren wollte, ist diese Kontrolle in den letzten Wochen vollständig entglitten. Der Schritt "zur Seite" hatte weder eine mittel- noch eine langfristige Perspektive, Kurz und die ÖVP agierten im Oktober ohne Plan und Strategie. Um seine Chancen auf eine Rückkehr ins Amt zu wahren, hätte der Altkanzler zugleich Gras über Chat-Affäre und WKStA-Anschuldigungen wachsen lassen und sich öffentlich präsent halten müssen – eine politische Quadratur des Kreises, deren Aussichtslosigkeit Kurz zunehmend klar geworden sein muss. Auch ein Rechtsgutachten und eine Bundesländertour konnten daran nichts ändern; der Spagat war nicht zu schaffen.

Im letztlich vergeblichen Ringen um seine politische Zukunft hat Kurz das Kabinett geschwächt – mit einer Ergebenheitsadresse, die sich die Ministerriege wohl lieber erspart hätte – und einen schwachen Kanzler installiert, den sich das Land in Zeiten einer Pandemie nicht leisten kann. Alexander Schallenberg war der erste Regierungschef der Zweiten Republik, der nicht zugleich auch Parteichef war; neben echter politischer Erfahrung fehlte ihm damit auch die innerparteiliche Autorität. Da nichts mehr zu holen und nichts zu gewinnen war, hat sich Kurz gerade noch "durch die Vordertür" (Matthias Strolz, DER STANDARD, 3. 12. 2021) verabschiedet. Die Dynamik der Ereignisse ließ keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr.

Der Musterschüler

Kurz war ein anderer Politikertypus als Wolfgang Schüssel, der zweite erfolgreiche schwarze Spitzenkandidat des letzten halben Jahrhunderts. Aber mit Schüssel verbindet ihn eine Doktrin, die entscheidend zu seinem vorzeitigen Abgang aus der Politik beigetragen hat. Als Kanzler einer großen Koalition wäre Kurz nicht in die Ibiza-Affäre geschlittert, eine große Koalition hätte wohl auch die Pandemie besser bewältigt.

"Türkis-Grün ist eine Schönwetterkonstruktion, mit relativ wenig Abstimmung innerhalb der Koalition."

Kurz wollte Musterschüler sein, die Pandemie gemeinsam mit den "First Movers" bewältigen, für eine jahrelange Ausnahmesituation fehlt ihm der lange sachpolitische Atem. Die Krisenkoordination innerhalb der Regierung funktioniert nur mangelhaft, Kanzler und Gesundheitsminister kommen sich ins Gehege, ein dysfunktionaler Föderalismus verschärft die Probleme. Aber Türkis-Grün ist auch eine Schönwetterkonstruktion, mit relativ wenig Abstimmung innerhalb der Koalition, jedenfalls weniger Abstimmung als im traditionellen Kompromiss- und Abtauschmodell der großen Koalition, deren Defizite man auf innovative Weise hinter sich lassen wollte: Jeder beackert seine Agenden und seine Wähler, das holprige Motto der Koalition "Klima und Grenzen schützen" gab die Richtung vor. Das hätte eine Zeitlang auch durchaus gutgehen können – aber nicht unter den Vorzeichen einer Pandemie.

Türkise Hegemonieagenda

Als überzeugter Kleinkoalitionär verfolgte Kurz, wie vor ihm Schüssel, eine türkise Hegemonieagenda. Man will weiterregieren, auch nach über dreißigjähriger Regierungsbeteiligung, aber nicht mit dem klassischen Partner SPÖ, der das Potenzial der Volkspartei beschneidet. Kleine Koalitionen bringen mehr Möglichkeiten der Machtentfaltung, aber sie sind auch weniger stabil. Von den bisher vier Koalitionen mit der FPÖ (davon eine mit der SPÖ), hielt nur eine die volle Periode, für Koalitionen mit den Grünen gibt es keinerlei Erfahrungswerte.

Der Drang zum kleinen Partner ist verständlich, denn Österreich hat ein Wechselproblem. Die SPÖ, deren Funktionäre die lange schwarz-türkise Regierungsperiode gerne beklagen, stellte (von 1970 bis 2000) gleich dreißig Jahre lang durchgehend den Kanzler. Bis zur politischen Zeitenwende 2000 wurde Österreich ganze 33 Jahre in großen Koalitionen regiert, Deutschland in fünf. Dort gilt die große Koalition als Krisenmodell, das – trotz Abstrichen von dieser reinen Lehre in den letzten Jahren – nicht im politischen Normalverlauf verschlissen werden sollte.

"Regiert wurde – wenig innovativ – nach der Methode Werner Faymann."

Aber Kurz ist kein Schüssel. Schüssel verfolgte eine Reformagenda, die er gegen heftigen medialen Widerstand, vor allem der Kronen Zeitung, durchsetzte; die Pensionsreform ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Bei Kurz wird man eine ähnlich entschlossene Agenda vergeblich suchen – ihm fehlte dafür der Mut und wohl auch die Vision, die türkis-blauen Leuchtturmprojekte wie die Zusammenlegung der Sozialversicherungsanstalten sind keine Meilensteine im selben Sinn. Regiert wurde – wenig innovativ – nach der Methode Werner Faymann. Auch dieser wird, ebenso wie Kurz, nicht als Reformkanzler in Erinnerung bleiben.

Kurzens Kunststück

Kurz’ politisches Erbe wird sich nur in der zeitlichen Distanz abschließend beurteilen lassen. Was ihn vor allen anderen auszeichnete, war sein einmaliges Talent, zentrale Elemente der FPÖ-Programmatik in die politische Mitte zu integrieren. Asyl- und Migrationsthemen wurden von Kurz nicht atemlos und aggressiv angesprochen, wie in der schon seit Jörg Haider übel beleumundeten FPÖ üblich, sondern rhetorisch moderat, argumentativ ausgefeilt und in wohlgewählten Worten. Dazu kam ein öffentliches Auftreten, das als diszipliniert, fokussiert und "to the point" wahrgenommen wurde.

Die ÖVP hat zweimal, mit starken Kandidaten, einen Wahlsieger FPÖ verhindert. In den Jahren nach 2000 mit Schüssel (im Jänner 2000 war die Haider-FPÖ in Umfragen erstmals auf Platz eins) und 2017 mit Kurz – bis zum Obmannwechsel im Mai dieses Jahres lag Heinz-Christian Straches FPÖ fast zwei Jahre lang durchgehend in Führung. Dieses Kunststück soll nun offenbar Karl Nehammer wiederholen. Ob es ihm ähnlich gut gelingen wird wie dem Altmeister, bleibt abzuwarten. (Christoph Landerer, 5.12.2021)