Weil ich geimpft bin, werden mir Hörner wachsen, hat mir ein Bekannter gesagt. Ich hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Er hat’s mir mit an die Stirne gehobenen Zeigefingern erklären müssen. Ich habe mich gekrümmt vor Lachen. Mein Gesprächspartner war zum Glück nicht beleidigt. Er hat erst milde etwas mitgelacht und dann nur gemeint, ich würde ja dann sehen in einiger Zeit. Wenn ich danach wieder mit ihm zu tun hatte, habe ich mir demonstrativ die Stirne gerieben – als ob sich da schon Beulen bilden würden. Er lächelte dann gutmütig. Mir war schon klar, dass er das wohl weniger lustig fand als ich selber. Schließlich machte ich mich über seine Meinung lustig, von der er möglicherweise ebenso überzeugt war wie ich von meiner. Aber ich konnte es nicht lassen. Ich wollte ihn eigentlich gern fürs Impfen gewinnen, wusste aber nicht so recht, wie.

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Fakten und Werte

Hier geht’s weniger um Werte als um Wissen. Es geht um die Wirkung der Impfung – nicht darum, ob Corona-Infektionen tatsächlich schlecht sind oder nicht vielmehr gut ("gut" etwa in einem normativen Sinne von "natürlich"). Das Strittige liegt auf dem Spektrum der Wahrscheinlichkeiten zwischen wahr und falsch, nicht auf dem Spektrum zwischen gut und schlecht (geschweige denn in einer Dichotomie von gut und böse).

Wir denken deshalb oft, dass Wissensfragen und Wertfragen sehr unterschiedlich sind. Für Wissen sei letztlich die Wissenschaft zuständig, für Werte in letzter Instanz das eigene Gewissen, und vielleicht auch etwas die Politik. Wissensfragen seien objektiv zu beantworten, Wertfragen blieben immer ein Stück weit subjektiv. In der neueren philosophischen Forschung gibt es aber auf beiden Seiten – in der Ethik wie in der Epistemologie – die Tendenz, das Soziale oder gar das Politische stärker hervorzuheben. Denn wie unsere Werte haben wir doch auch unser Wissen (oder zumindest das, was wir dafür halten) gemeinsam. Wir machen‘s nicht bloß mit uns selber aus, was wir für wie wahrscheinlich halten. Wir lernen’s von und mit anderen, wie wir auch unsere Werte kaum aus uns selber schöpfen, sondern sie in Erziehung und im Umgang miteinander entwickeln. Was uns als gewiss gilt und was unmöglich, was uns wert und wichtig ist und was nicht, worauf wir achten und was wir übersehen, wem wir Glauben schenken, wessen Meinung wir eher geringes Gewicht geben und wen wir schlicht überhören, verrät oft mehr über unser soziales Milieu als über uns selbst.

In der politischen Epistemologie – einer relativ jungen philosophischen Forschungsrichtung – kommt beides zusammen. Die Frage nach der Konstitution von Wissen wird mit der Frage nach der Konstitution unseres Zusammenlebens – der Politik – zusammengeführt.

Hans Bernhard Schmid ist Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Wien.
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Gesellschaftlicher Konsens

Im Politischen sind wir längst Pluralist:innen. Wir wollen kein homogenes "Wir" sein, in dem unterschiedliche Werthaltungen keinen Platz haben. Im Epistemischen tun wir uns vielleicht etwas schwerer – aber wir wollen sicherlich lieber einen freien Markt der Meinungen und keinen Platonischen Kastenstaat, wo alles, was als Wissen gilt, aus einem Wahrheitsministerium kommt und sich danach richtet, wieviel und was dort für "gut für uns" befunden wird. Gesinnungsfreiheit betrifft Wissen ebenso wie Werte, und das verlangt von uns mindestens Toleranz. Toleranz ist Duldung. Es muss schon etwas weh tun, sonst ist’s keine Toleranz. Und sie hat ihre Grenzen. Die wenigsten Gesinnungen sind bloß "innere Zustände", die man getrost ignorieren kann, wenn sie nicht die eigenen sind. Sie sind Dispositionen zum Handeln. Sie haben reale Konsequenzen. Da ist es dann notwendig, wenigstens den gefährlichsten und schmerzlichsten Konsequenzen freier Gesinnung über Vorschriften doch auch einen Riegel zu schieben. Dafür haben wir den Staat. Man soll denken, wie und was man will, und auch sagen dürfen, was man denkt – solange man regelkonform handelt. Und die Regeln sollen dem Grundsatz folgen, jeder und jedem so viel Freiheit zu lassen wie mit der gleichen Freiheit aller verträglich.

Aber das Auferlegen von Pflichten und Durchsetzen von Verboten ist und bleibt eine Krücke – notwendig zwar, aber beschränkt in der Reichweite. Denn niemand lässt sich gerne diktieren, was den eigenen Ansichten zuwiderläuft – egal, ob es dabei ums Wissen oder um Werte geht. Und ganze Milieus zu kriminalisieren ist etwas anderes als einzelne Gesinnungstäter abzugreifen. In der politischen Philosophie wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht damit getan ist, liberale und demokratischen Prinzipien in die Verfassung zu schreiben und entsprechende Institutionen zu errichten. Wenn das liberaldemokratische Zusammenleben gelingen soll, müssen zumindest die größeren Gesinnungsgemeinschaften und -milieus zu einem gesellschaftlichen Konsens finden. Sie müssen nicht nur die Regeln und Institutionen akzeptieren, sondern sie aus ihrer je eigenen Sicht auch tatsächlich gutheißen. Die Prinzipien mögen für ewig gelten wollen – dass sie im Zusammenleben auch realisiert werden hängt nie allein am Staat. Es hängt immer auch an uns selber als gesellschaftliche Aufgabe. Wenn wir sie nicht kontinuierlich wahrnehmen, wird das liberaldemokratische Zusammenleben am Ende bloß ein vorübergehender historischer Glücksfall gewesen sein.

Die Autorität der Wissenschaft

Ganz auf der Linie der politischen Epistemologie zeigen die jüngsten Diskurse über die Pandemie und den Klimawandel, wie sehr es dabei ums Wissen geht – und um die (bröckelnde?) Autorität der wissenschaftlichen Forschung. Der Staat kann wissenschaftliche Forschung zwar finanzieren und über Bildungspolitik großen Einfluss nehmen, aber Autorität bekommt die Wissenschaft letztlich nur durch gesellschaftliche Anerkennung. Ob und wie weit dies geschieht, liegt einerseits an unseren sozialen Gemeinschaften, andererseits aber auch daran, wie wir wissenschaftliche Forschung organisieren und orientieren – Diversität und Partizipation sind dafür wichtige Stichworte, wohl aber auch weiterhin die alten politisch-epistemologischen Grundwerte wie die Freiheit der Wissenschaft und die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischem Aktivismus.

Auch Wissenschaft braucht eine Art gesellschaftlichen Konsens, um ihre gesellschaftliche Rolle spielen zu können. Und dieser Konsens muss gepflegt werden. Wir – die Impfwilligen, die den Wert der Forschung erkennen und dabei erst noch den Staat im Rücken haben – sind darin nicht immer besonders gut. Aus meiner eigenen "Bubble" (oder Echokammer) wurde mir das Folgende zugetragen: "Wer davon überzeugt ist, dass die Corona-Impfung die DNA verändern wird, sollte das als Chance für sich begreifen." Ich schäme mich fürs Kichern. Denn da ist eine Portion Hass darin: eine abwertende Objektivierung einer gesellschaftlichen Gruppe aus einer privilegierten Position heraus.

"Gesellschaftlicher Konsens" und "Wissenschaft" können keine Banner sein, unter denen wir uns gegen abweichende Gruppen oder Milieus profilieren. Sie sind keine Errungenschaften, an denen wir uns festhalten und die wir gegen Feinde verteidigen können. Sie sind immer eine Aufgabe, die uns bevorsteht: das Miteinandersein in der Verständigung.