Hirnschmalzeinsatz.

Foto: AFP/GIUSEPPE CACACE

Dubai – Die ganze Schachwelt ist noch ein wenig müde und rosig im Gesicht, da müssen die Gladiatoren schon wieder in die Arena. Hinter ihnen: Das große Gestern. Die außergewöhnliche Schlacht, die bis heute dauerte, weil die sechste Partie, die Magnus Carlsen nach 136 Zügen gewann, erst nach Mitternacht zu Ende ging.

Wie schläft man nach einer solchen Partie? Was denkt man? Wie viel Energie hat man ohne Ruhetag für eine weitere Partie Spitzenschach? Das alles werden sie nach Runde sieben gefragt werden, aber zuerst müssen sie spielen, schon wieder spielen. Und die siebte Partie beginnt, als hätte es Partie sechs nie gegeben. Als stünde es immer noch unentschieden, versucht Jan Nepomnjaschtschi weiterhin seelenruhig, die kleinen Eröffnungsvorteile, die er aus seinen Anti-Marshall-Varianten gegen Carlsen herauspresst, zu einem vollen Punkt zu verdichten.

Ruhig boxen

Wahrscheinlich ist es auch genau das, was Nepo, der sich äußerlich unbeeindruckt von seiner Niederlage zeigt, für Partie sieben vorgenommen hat: Jetzt nur nicht durchdrehen. Nicht versuchen, mit Gewalt Ungleichgewichte herbeizuführen, um sofort zurückzuschlagen. "Ruhig boxen", wie Henry Maskes Trainer Manfred Wolke zu seinem Schützling immer sagte. Ja, das ist offenbar genau Nepomnjaschtschis Philosophie heute. Der Russe will weiterhin ruhig boxen, auf seine Chance warten, auch wenn er seit heute Nacht im Punktrückstand ist.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 7.
Österreichischer Schachbund

Zu diesem Zweck hat Nepomnjaschtschi sich mit seinem Team eine kleine Verbesserung gegenüber der fünften Partie zurechtgelegt. Auch da war es zwar eröffnungsmäßig gar nicht schlecht für ihn gelaufen, aber natürlich wird auch Team Carlsen seine Hausaufgaben erledigt haben. Deshalb schiebt Nepo heute im 11. Zug lieber den d- statt des c-Bauern ein Feld nach vorne. So bleibt c3 für den weißen Damenspringer frei, der das Feld im 12. Zug als Sprungbrett nutzt, um sich in Zug 13 mitten ins Zentrum zu katapultieren.

Schön steht er da, der weiße Springer. Überhaupt sieht die Stellung angenehmer für Weiß aus. Aber wie jetzt weiter? Carlsen hat seine beiden Läufer wieder einmal auf ihren Ausgangsfeldern c8 und f8 verstaut, das tut er in dieser Struktur gerne. Die schwarzen Springer stehen auf den idealen Entwicklungsfeldern, der König ist sicher. Dass Weiß aufgrund seiner aktiveren Figuren leichten Vorteil hat, macht dem Champion offenbar nichts aus. Er sitzt in seiner Burg und wartet ab, ob Nepomnjaschtschi ernsthafte Anstalten macht, sie zu erstürmen. Wenn ja, wird er rechtzeitig Gegenmaßnahmen einleiten.

Rasche Vereinfachung

Der Sturm gerät an diesem Tag aber ohnehin nur zu einem leichten Lüftchen. Schon dass der Herausforderer im 14. Zug seinen schönen Zentralspringer mir nichts, dir nichts abtauscht, sieht nicht wie die für Schwarz gefährlichste Fortsetzung aus. Zwar kommt der Weiße in der

Folge dazu, ein ideales Bauernzentrum zu bilden, aber er kann sich nicht lange daran erfreuen. Mit 17...exd4 löst Carlsen die Zentrumsspannung auf, mit 20...c5 sorgt er dafür, dass das weiße Bauernpaar auf d4 und e4 keine Wurzeln schlägt.

Nepomnjaschtschi hätte diese Vereinfachung verhindern können, wenn er im 18. Zug mit einer Figur statt eines Bauern auf d4 zurückgenommen hätte. Es ist wie in seinen vorangegangenen Weißpartien in diesem Match: Zwar steht der Herausforderer anfangs gut, aber dann findet er die kritischen Züge nicht, die mitunter nicht einmal objektiv besser, aber wenigstens unangenehmer für Carlsen wären.

Mental stark

Heute aber gelten für Nepo mildernde Umstände. Alle sind voll des Lobes dafür, dass der Russe nach der Niederlage in Runde sechs noch tapfer zur Pressekonferenz ging, Fragen beantwortete, nicht einmal ungeduldig dabei wirkte. Keiner ist ihm heute böse, dass er dem gestrigen größten Kampf nicht gleich einen weiteren großen folgen lässt.

Nach 27 Zügen ist die Stellung vollständig verflacht, die beiden Spieler ziehen nur noch pro forma, um den 40. Zug zu erreichen. Erst dann dürfen sie sich gemäß der Regeln auf ein Remis einigen – und das tun sie denn auch gerne. So steht es zu Halbzeit des Matches 4:3 für Schachweltmeister Magnus Carlsen.

Wie genau man sich nach einer Niederlage wie jener in Partie sechs fühlt, erfahren die fragenden Reporter auch in der Pressekonferenz nach Partie sieben nicht. Vermutlich ließe es sich auch gar nicht so gut in Worte fassen. "Ich bin mental stark", sagt Nepo, als er gefragt wird, wie er mit der für ihn schwierigen Matchsituation zurechtkommt. Damit will der Herausforderer signalisieren, dass er die Niederlage bereits abgehakt hat und voll auf die zweite Hälfte des Matches fokussiert ist.

Dass dem wirklich so ist, kann Nepomnjaschtschi bereits am Sonntag unter Beweis stellen. Magnus Carlsen führt dann wie in der bisher einzigen entschiedenen Partie wieder die weißen Steine. (Anatol Vitouch, 4.12.2021)