2018 ging es für Sebastian Kurz noch bergauf: Auf einer Sommerwanderung mit Bewunderern am Schöckl im steirischen St. Radegund.

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Ende der 90er-Jahre ging es für Lance Armstrong noch bergauf: Sieben Mal in Folge gewann er die Tour de France. Alle Titel wurden ihm aberkannt.

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Ja, klar, beim ersten Hinsehen liegt der Vergleich, den etwa Reinhold Mitterlehner und Peter Filzmaier zwischen Sebastian Kurz und Lance Armstrong gezogen haben, auf der Hand. Die "unlauteren Mittel", die auf dem Weg zum Erfolg da wie dort eingesetzt wurden, sind eine dicke Parallele. Dass sie allein zum Erfolg geführt haben, daran mögen übrigens in beiden Fällen Zweifel angebracht sein. Denn wahrscheinlich wäre Lance Armstrong auch ungedopt ein hervorragender Radrennfahrer gewesen, möglicherweise hätte er auch clean die eine oder andere Tour de France gewonnen, vielleicht wäre er auch nicht immer auf die Hilfe ebenfalls gedopter Kollegen angewiesen gewesen.

Doch Armstrong wollte auf Nummer sicher gehen – wie Sebastian Kurz, der ja vielleicht auch an die Macht gekommen und dort geblieben wäre, hätte er etwas weniger Grenzen überschritten. Stichwort abgeschossener Vorgänger an der Parteispitze, Stichwort überschrittene Wahlkampfkostenobergrenze, Stichwort bestellte Umfragen.

Bergauf, immer nur bergauf

Zurück zum Start. Am besten stellen wir Lance Armstrong (50) einmal vor, vielen Jüngeren sagt er ja nicht mehr allzu viel. Der Texaner ist 15 Jahre älter als Kurz, doch auch er war ein Jungspund, als er zum ersten Mal den Gipfel erklomm. Schon in seinem zweiten Profijahr, 1993, feierte Armstrong zunächst bei der Tour de France (TdF) einen ersten Etappensieg. Noch sensationeller war wenig später sein Triumph im Straßenrennen der Weltmeisterschaft. Armstrong war 21 Jahre alt, der jüngste Weltmeister aller bisherigen Zeiten, das gilt bis heute. In den drei folgenden Jahren sollte er das eine oder andere Eintagesrennen sowie 1995 eine weitere TdF-Etappe gewinnen.

Und Sebastian Kurz? War mit 21 nicht Weltmeister, aber immerhin Obmann der JVP Wien und ein Jahr später JVP-Bundesobmann. Ein weiteres Jahr später ließ er vor den Wiener Gemeinderatswahlen im Zuge der Kampagne "Schwarz macht geil" einen Hummer durch die Hauptstadt fahren. Mit 24 wurde er Integrationsstaatssekretär, mit 27 Österreichs jüngster Außenminister, mit 30 ÖVP-Obmann, mit 31 Bundeskanzler. Es ist bergauf gegangen, immer nur bergauf.

Armstrongs Rückschlag

Zumindest in diesem Punkt ist Armstrongs Geschichte doch eine ganz andere. Er hatte früh einen schweren Rückschlag erlitten. Im Alter von 25 Jahren sah sich Armstrong im Oktober 1996 mit der Diagnose Hodenkrebs konfrontiert, die Krankheit war fortgeschritten, im Bauch und in der Lunge hatten sich Lymphknotenmetastasen gebildet, im Gehirn zwei Tumore. Armstrong wurde mehrmals operiert, der rechte Hoden wurde ihm entfernt, er durchlief vier Zyklen Chemotherapie – und kehrte nach eineinhalb Jahren, im Frühjahr 1998, in den Radsport zurück. Das allein war schon eine tolle Geschichte, und mit den Erfolgen, die sich flott einstellten, wurde die Geschichte immer toller.

Bald war klar, dass sich Armstrong verändert, entwickelt hatte, vom Spezialisten für Eintagesklassiker zum Allrounder, an dem es in den Bergen wie auch in Einzelzeitfahren kein Vorbeikommen gab. Nachdem er 1999 nicht nur vier Etappen, sondern auch die Gesamtwertung der Tour de France gewonnen hatte, wurde weltweit sein "Comeback des Jahrhunderts" bejubelt. Armstrong war 27, so alt wie einige Jahre später Österreichs jüngster Außenminister. Schon im Jahr nach seinem ersten Tour-Triumph erschien die erste Autobiografie "It’s Not About the Bike: My Journey Back to Life", ihr deutscher Titel lautete "Tour des Lebens".

Auch Kurzens Karriere ist ausführlich beschrieben worden, in Büchern, vor allem aber in WhatsApp-Nachrichten. Man kann nicht ausschließen, dass noch etliche bis dato unbekannte Werke entdeckt werden. Freilich hat, was man schon kennt, locker dafür gereicht, dass die Dinge so gekommen sind, wie sie kamen. Hätte sich Kurz in jüngeren Jahren für Sport interessiert, so hätte er sich später durchaus an Armstrong orientieren können. Der hatte sich, als die ersten Dopinggerüchte und -vorwürfe aufkamen, als Opfer geriert und geleugnet, geleugnet, geleugnet. Bis er nicht mehr auskam.

Message control pur

Sieben Mal en suite hat er die Tour de France gewonnen, mit seinem sechsten Erfolg 2004 übertraf er die Fünffachsieger Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault und Miguel Indurain. Nach seinem siebenten Triumph trat er zurück, 2009 versuchte er ein Comeback, 2011 hörte er endgültig auf. Da waren bereits seit Jahren Dopingvorwürfe im Raum gestanden. Die US-Staatsanwaltschaft stellte Ermittlungen zwar ein, doch die amerikanische Antidopingagentur (USADA) sperrte Armstrong rückwirkend ab 1. August 1998 lebenslang. Im Oktober 2012 erkannte auch der Weltradsportverband (UCI) dem Texaner alle ab diesem Zeitpunkt errungenen Siege ab. Erst danach, erst am 13. Jänner 2013 brach Armstrong selbst sein Schweigen und Leugnen, als er in der Talkshow "Oprah’s Next Chapter" zugab, gedopt zu haben.

Zuvor war seine, wenn man so will, "Familie" auseinanderbröckelt, der "Inner Circle". Ein ehemaliger Teamkollege nach dem anderen hatte sich gegen den "Boss" gestellt und mit den Behörden kooperiert, allen voran Floyd Landis und Tyler Hamilton. Sie waren in der US-Postal-Equipe seine wichtigsten Domestiken und Wasserträger gewesen, hatten für ihn das Tempo angezogen, wenn es Gegner abzuhängen, Ausreißer einzuholen oder das Feld zusammenzuhalten galt. Sie alle hatten nicht schlecht gelebt von und mit Armstrong, schließlich wurden die Preisgelder unter allen Teamkollegen aufgeteilt. Und doch standen sie stets in seinem mächtigen Schatten, er verlangte absoluten Gehorsam. Das Oberhaupt und Sprachrohr kapselte die "Familie" nach außen hin ab, Message control pur.

"Wir hätten sonst nicht gewonnen"

Erfolgreich war dieses System, das System Armstrong, sympathisch war es nicht. Auch das mag dazu beigetragen haben, dass nicht nur Landis und Hamilton, sondern letztlich mehr als ein Dutzend ehemalige Weggefährten unter Eid zu Protokoll gaben, Armstrong habe Zeit seiner Karriere gedopt. In ihrem Abschlussbericht beschrieb die USADA "das progressivste, professionellste und erfolgreichste Dopingprogramm, das die Sportwelt je gesehen hat".

Fassen wir also zusammen. Das Einsetzen unlauterer Mittel. Der frühe Höhenflug. Ein Erfolgsrun sondergleichen. Das Auf-Nummer-sicher-Gehen. Der "Inner Circle", der sich abkapselt und doch auseinanderbröckelt. Message control, die irgendwann verloren geht. Die Opferrolle. Der Rückzug zu einem Zeitpunkt, als er sich nicht mehr vermeiden lässt. "Wir haben getan, was wir tun mussten, um zu gewinnen. Wir hätten sonst nicht gewonnen. Ich würde nichts anders machen." Es war Lance Armstrong, der das gesagt hat, Lance Armstrong, mit dem Sebastian Kurz zuletzt mehrfach verglichen worden ist. (Fritz Neumann, 5.12.2021)