Das zweifelhafte Mittel des Zwangs muss jetzt Versäumnisse zu kompensieren versuchen, schreibt Anwalt Alfred J. Noll im Gastkommentar.

Die Impfrate in Österreich ist immer noch nicht hoch genug, um die Pandemie einzudämmen. Eine Impfpflicht soll’s ab Februar richten.
Foto: Imago/Pedro Fiuza

Wie wir’s drehen und wenden, es wurde und wird zu wenig geimpft. Diese Einschätzung beruht auf einer simplen Überzeugung: Aus staatlicher Sicht darf es im Umgang mit der Pandemie nicht aufs individuelle Einschätzen von Risiken und Kosten ankommen, sondern nur aufs allgemein Notwendige. Der Staat verdient ja überhaupt nur dann unsere Anerkennung, wenn er "safety of the people", also von uns allen, gewährleistet. Das ist nicht alles, aber es ist das Mindeste.

Was wir im landläufigen Sinne als "Regieren" verstehen, ist nichts anderes als der Versuch, das "allgemein Notwendige" zur Gewährleistung und Erhaltung unserer Sicherheit zu realisieren. Beim Regieren muss der Staat von den partikulären Interessen der Individuen Abstand nehmen und versuchen, das Funktionieren der Gesamtmaschine zu gewährleisten. Mögen sich auch manche unter Berufung auf ihr Gewissen, ihre privaten Erkenntnisse oder ihre Überzeugungen dagegen spreizen – wer regieren will, muss tun, was insgesamt das Richtige ist.

Was ist das Richtige?

Nun wissen wir als völlig Aufgeklärte natürlich, dass uns niemand so einfach sagen darf, was "das Richtige" sei. Wir alle haben ja so unsere Meinung darüber. Die parlamentarische Demokratie hat für diese Misslichkeit eine ganz einfache Doppellösung gefunden: Erstens ist "das Richtige" zunächst einfach das, was die Mehrheit bestimmt, und wenn wir damit nicht zufrieden sind, dann sorgen wir – welch ein Trost! – bei nächster Gelegenheit für eine andere Mehrheit. Und zweitens sind uns alle unsere Grundrechte ohnedies nur mit Vorbehalt gewährt: Sie können nach Maßgabe bestimmter Erfordernisse allesamt durch das von der Mehrheit beschlossene Gesetz eingeschränkt werden – im Wesentlichen dann, wenn diese Einschränkung tauglich ist, das angestrebte politische Ziel zu realisieren, und wenn diese Einschränkung verhältnismäßig ist – wenn also nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird.

Also lassen wir die Polizei los auf die Unwilligen! Die Sache hat aber einen Haken: Denn wenn es auch möglich wäre, das solcherart "Richtige" einfach zu beschließen und mittels Staatsgewalt auch durchzusetzen (also etwa so wie bei der Überwachung von Geschwindigkeitsbeschränkungen), so wissen doch alle Regierenden, dass man mit Bajonetten vielerlei machen kann, nur sitzen kann man darauf nicht. Die Regierenden müssen also unentwegt Verständnis und Zustimmung für ihre Maßnahmen einwerben. Wenn sie uns nun sagen: "Leute, lasst euch impfen, sonst zwingen wir euch dazu!", dann haben sie eigentlich schon verloren. Sie offenbaren damit die grassierende Abwesenheit von Anerkennungswürdigkeit ihres Tuns.

Keine so schwierige Sache

Warum aber tut ein relevanter Teil der Leute nicht, was ihnen hier von oben anempfohlen wird? – So schwierig ist die Sache nicht:

Der Philosophie wird gerne nachgesagt, sie sei zu nichts nütze. Andererseits ist es wohl schwerlich bestreitbar: "There is nothing as practical as a good theory" (Psychologe Kurt Lewin). Bei Hegel, dem oft wegen seiner Abstraktheit Gescholtenen, finden wir etwa die schöne Stelle: "Wenn die Menschen sich für etwas interessieren sollen, so müssen sie sich selbst darin haben und ihr eigenes Selbstgefühl darin befriedigt finden (…) Es geschieht daher nichts, wird nichts vollbracht, ohne dass die Individuen, die dabei tätig sind, auch sich befriedigen; sie sind partikuläre Menschen, das heißt, sie haben besondere, ihnen eigentümliche Bedürfnisse, Triebe, Interessen überhaupt: unter diesen Bedürfnissen ist nicht nur das des eigenen Bedürfnisses und Willens, sondern auch der eigenen Einsicht, Überzeugung, oder wenigstens des Dafürhaltens, der Meinung, wenn anders schon das Bedürfnis nach Räsonnement, des Verstandes, der Vernunft erwacht ist. Dann verlangen die Menschen auch, wenn sie für eine Sache tätig sein sollen, dass die Sache ihnen überhaupt zusage, dass sie mit ihrer Meinung, es sei von der Güte derselben, ihrem Rechte, Vorteil, ihrer Nützlichkeit, dabei sein können. Dies ist besonders ein wesentliches Moment unserer Zeit, wo die Menschen wenig mehr durch Zutrauen und Autorität zu etwas herbeigezogen werden, sondern mit ihrem eigenen Verstande, selbständiger Überzeugung und Dafürhalten den Anteil ihrer Tätigkeit einer Sache widmen wollen."

Was Hegel hier in den 1820er-Jahren in den Vorlesungen zur "Philosophie der Geschichte" zu erläutern versuchte, ist etwas ganz Einfaches: Wenn die vielen nicht selbst zur Überzeugung kommen, dass ihnen die Impfung Gutes tut, ihnen ein Bedürfnis ist, dann ist die Schlacht insofern schon verloren, als sie auch die versuchte "Überredung" von oben nicht zum Impfen bringen wird. Um im Bild zu bleiben: Was bei der Schlachtaufstellung vermurkst wurde, das lässt sich auch durch erhöhten Kampfeinsatz nicht beheben.

Leidenschaftliche Gewissheit

Unsere Regierung hat versagt: Sie hat es bei einem Gutteil der Bevölkerung nicht geschafft, bei diesen Menschen das Gefühl zu erzeugen, dass eine Impfung nach deren eigenem Verstand, nach ihrer selbstständigen Überzeugung und ihrem jeweiligen Dafürhalten "richtig" wäre; für diese Leute ist es zur leidenschaftlichen Gewissheit geworden, dass das Impfen keine Sache ist, die ihnen "überhaupt zusagt" – und Argumente richten hier auch nichts mehr aus, weil alle diese Argumente von den "Impfunwilligen" wahrgenommen werden als Beleidigung ihrer doch schon gewonnenen "Einsicht" und ihres "eigenen Selbstgefühls".

Muss also die Regierung nun eine Impfpflicht verordnen, wenn uns Epidemiologen sagen, dass der Pandemie nur statistisch (durch die große Zahl der Impfungen) beizukommen ist? Ja, bedingt durch das eigene Versagen hat sich die Regierung ans offene Grab gestellt. Was sie an Einsicht nicht erzeugen konnte, muss sie jetzt durch das zweifelhafte Mittel des Zwangs zu kompensieren versuchen – und vielleicht ist dieser Zwang das passende Vademecum gegen die Pandemie, aber es ist mit Sicherheit keine Empfehlung für diese Regierung. (Alfred J. Noll, 6.12.2021)