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Trennungssituationen sind für Eltern wie für Kinder schmerzhaft. Die gute Nachricht: Sie können geübt und gelernt werden.

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Vor der Eingangstüre zum Kindergarten: Das Kind klammert sich an Papa oder Mama, weint, zeigt, dass es auf keinen Fall dorthin will. Ein tränenreicher Abschied, den wohl die meisten Eltern kennen und der bei den meisten wahrscheinlich Unbehagen auslöst. Einerseits wollen sie ihre Kinder nicht weinend zurücklassen, andererseits ist es aber wichtig, dass sich Kinder ab und an von anderen Personen betreuen lassen – ein unausweichliches Dilemma.

Die gute Nachricht: Trennungsangst und deren Bewältigung ist eine ganz normale Entwicklungsaufgabe in der Kindheit. Das Temperament und die kognitive Entwicklung des Kindes, aber auch die elterliche Erziehung beeinflussen jedoch die Trennungsangst. Gerade jetzt in der Pandemiezeit durch Lockdowns und Homeoffice führte die vermehrte Anwesenheit der Eltern vielfach dazu, dass die Bindung besonders intensiviert wurde, gleichzeitig sind Kontakte reduziert. Das erste Mal ohne Eltern kann dann plötzlich besonders beunruhigend sein.

Evolutionspsychologisch gesehen ist Angst ein Schutzmechanismus in uns Menschen. Er gibt uns die Möglichkeit, aus einer bedrohlichen Situation zu fliehen – oder zu kämpfen. Der Nachwuchs kann sich dieses Schutzmechanismus’ noch nicht bedienen. Er ist darauf angewiesen, dass die Bindungsperson beschützend eingreift, wenn es bedrohlich wird. Trennungsangst ist also eine wichtige Überlebensstrategie, sie gehört zu jeder gesunden Kindesentwicklung dazu.

Fremdeln oder Trennungsangst?

Neugeborene Babys können noch oftmals ohne Protest von Freundinnen und Freunden oder Verwandten getragen werden. Etwa um das achte Lebensmonat herum reagiert das Kleinkind plötzlich mit Abneigung gegenüber anderen Personen, selbst wenn es sie bereits kennt. Plötzlich weint es beim Opa, obwohl der sich immer sehr liebevoll mit dem Kind beschäftigt hat. Dies ist ein eindeutiges Zeichen, dass die "Fremdelphase" allmählich beginnt. Das Kind hat in dieser Entwicklungsstufe bereits gelernt, bekannte Gesichter von unbekannten zu unterscheiden. Folglich verweigert es den näheren Kontakt zu Menschen, die es nicht oft zu Gesicht bekommt, und klammert sich an seine Eltern. Es ist also eine Situation, die aus evolutionspsychologischer Sicht Schutz bedarf. Diese Gefühle sollte man unbedingt ernst nehmen und das Kind in den Arm nehmen.

Im Unterschied dazu ist Trennungsangst die reine Angst, von den Eltern getrennt zu sein. Sie beginnt in etwa zur selben Zeit wie das Fremdeln. Auftreten, Dauer und Intensität sind von Kind zu Kind unterschiedlich sowie von vorangegangenen Erfahrungen abhängig. Schüchterne Kinder haben ein erhöhtes Risiko, extreme Ängste zu entwickeln, und fremdeln oft stärker.

Die Trennungsangst kommt in den ersten zwei Lebensjahren häufiger vor und nimmt dann normalerweise stetig ab. Kinder können dann beispielsweise schon gut nachvollziehen, dass nach einer Übernachtung bei den Großeltern ein erfreuliches Wiedersehen mit den Eltern ansteht.

Übermäßige Sorgen, Panikzustände

Die Hochphase der entwicklungsbedingten Trennungsangst ist zwischen dem achten und 18. Monat schon größtenteils überstanden – dennoch können auch später wieder kurze Phasen mit erhöhter Angst vor dem Alleingelassenwerden aufkommen. Wenn diese Angst aber außergewöhnlich stark ausgeprägt ist und das Kind sowie die Eltern im Alltag und im sozialen Kontext beeinträchtigt, könnte eine Trennungsangststörung vorliegen. Zeichen sind: Das Kind macht sich übermäßig oft Sorgen, dass der Mama oder dem Papa etwas zustößt, oder Trennungssituationen verursachen Panikzustände, die von psychosomatischen Beschwerden begleitet werden. Auf das Wiedersehen reagiert das Kind dann oft entweder mit extremen Wutausbrüchen oder apathischem Verhalten. Unter all dem leiden Kinder sowie Eltern. Da Angsterkrankungen immer mit Vermeidungsverhalten gekoppelt sind, wird auch die Entwicklung des Kindes behindert. Wichtige Schritte in der Autonomieentwicklung bleiben aus, der Erwerb von sozial-emotionalen Kompetenzen bleibt auch auf der Strecke.

Traumatische Erfahrungen, genetische Veranlagung, aber auch ein Hang zur Ängstlichkeit bei den Eltern können zu der Entstehung von Trennungsangststörungen beitragen. Überbehütende Eltern wollen ihrem (ängstlichen) Kind seine Sorgen bestmöglich abnehmen. Dadurch verhindern sie aber, dass der Nachwuchs das Alleinsein aushalten lernt. Zusätzlich schränkt dieses Verhalten den natürlichen Entdeckungsdrang des Kindes ein. Die häufigen Zweifel der Eltern werden vom Kind verinnerlicht. So wird ein Teufelskreis der Angst aufrechterhalten, und das Kind lernt nicht, auf sich selbst zu vertrauen. Es kann kein Selbstvertrauen aufbauen und keine Eigenverantwortung entwickeln. Kinder erwerben schließlich größtenteils dann Kompetenzen, wenn sie auch mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen müssen.

Was Eltern tun können

Trennungssituationen sind auch für Eltern schmerzhaft, und nicht selten entstehen Schuldgefühle, das Kind zu verlassen. Sich aus der Wohnung zu schleichen oder Schlafphasen des Kindes zu nutzen, um den Abschiedsschmerz nicht mitzuerleben, ist in diesem Fall ungeeignet. So lernt das Kind, dass es sich eben nicht auf sie verlassen kann, und die Trennungsangst wird dementsprechend stärker.

Was jedoch hilfreich sein kann, ist, kurze Trennungssituationen einzuüben. Wird ein Fernbleiben der Eltern mehrmals mit klaren Worten der Verabschiedung und der Begrüßung eingegrenzt, so machen Kinder die Erfahrung, dass nach einem Abschied die Bezugsperson auch wieder zurückkommt.

Klare Kommunikation hilft ebenso. Das Kind lernt zu verstehen, dass es manchmal notwendig ist, dass die Mutter oder der Vater mal wegmüssen. Unterstützend kann ein Kuscheltier oder Ähnliches sein, das in diesen Situationen Mut schenkt.

Trennungsangst ist eine wichtige Überlebensstrategie und auch ein Zeichen für eine gute Bindung zwischen den Eltern und dem Kind. Weinen und darauffolgendes Trösten sind gezielte Verhaltensmuster, die Nähe, Kontakt und somit Bindung fördern. Gab es mehrere gelungene Abschiede und glückliche Wiedersehen, lernen Kinder und Eltern, dass das Band zwischen Bezugsperson und Kind auch mal elastischer werden darf und dass das Kind im Bedarfsfall auf Rückhalt vertrauen kann. Neue Erfahrungen zu sammeln ist eine der wichtigsten Aufgaben in der Kindesentwicklung und nur dann möglich, wenn Eltern und Kinder einen guten Weg des Loslassens gefunden haben. Dieser Entwicklungsschritt ist jedoch höchst individuell und erfordert viel Fingerspitzengefühl, Zeit und Geduld. (Gastbeitrag: Dagmar Zahradnik, 10.12.2021)