Richard David Precht wollte in seiner Sendung im ZDF wissen, ob wir uns zu Tode sensibilisieren.

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In der jüngsten Ausgabe des TV-Formats "Precht" war man sich schnell einig. Alle sind heute doch total übersensibel. In der Sendung ging es darum, ob wir uns durch diverse Debatten um Sexismus oder Rassismus "zu Tode sensibilisieren", so die titelgebende Ausgabe des Talkformats, zu dem Gastgeber Richard David Precht die Chefredakteurin des "Philosophie-Magazins", Svenja Flaßpöhler, eingeladen hat. #MeToo, Black Lives Matter, Genderdebatten oder die Diskussion um die Corona-Maßnahmen – all das wären Beispiele dafür, die zeigen würden, dass es so gesellschaftlich akzeptiert ist wie noch nie, die eigene Verletzlichkeit und Sensibilität zu zeigen, leitete Precht die Sendung ein.

Allein schon diese Auflistung ist höchst fragwürdig, denn auf welcher Basis werden hier Rassismus- und Genderdebatten in die Nähe von Protesten gegen Maßnahmen im Zuge der Pandemie gerückt? Dieser Vergleich deutet an, dass Kritik an Geschlechter- und rassistischer Diskriminierung mit Impfgegner*innen und Maskenverweiger*innen gleichzusetzen ist. Letztere wollen der Wissenschaft schlichtweg nicht glauben, dass Impfen sehr sicher ist und die Maske schützt. Sie sind nicht bereit, an der Beendigung einer massiven Krise mitzuarbeiten. Und Kritiker*innen von Sexismus und Rassismus? Das ist wohl was ganz anderes, gibt es doch zuhauf wissenschaftliche Belege, dass es systematische Diskriminierung aufgrund von Geschlecht gibt und wenn man nicht weiß ist. Das alles in einen Topf zu schmeißen zeigt schön, dass in dieser als zurückgelehnt und "philosophisch" inszenierten Diskussion schon ziemlich viel Ideologie steckt.

Wovon reden wir hier

Das starke Vokabular – von "Vorschriften", "Einschränkungen" bis hin zu "Zwang" – ist in Bezug auf Kritik an Rassismus oder Sexismus schnell bei der Hand. Es ist deshalb durchaus wichtig, von Zeit zu Zeit – oder spätestens dann, wenn beliebte Medienphilosoph*innen wieder in diese Alarmismus-Kiste greifen – zu fragen, wovon die eigentlich reden, wenn sie "Genderdebatten" als überspannt oder Rassismus-Kritik als übersensibel deklarieren.

Reden wir von einer verpflichtenden Professorinnenquote von mindestens 80 Prozent Frauen an den angeblich so Political-Correctness-terrorisierten Unis? Von Regenbogenfamilien als stillschweigend vorausgesetzter Standard in Kinderbüchern? Von einer überproportionalen Inhaftierung weißer Menschen, weil Richter*innen schon Angst haben, People of Color (PoC) einer Gefängnisstrafe zuzuführen – Sie wissen schon, aus Panik vor den Abermillionen linken, hyperwoken, identitätspolitischen Schneeflöckchen?

Nein, davon ist freilich nicht die Rede. Geht auch gar nicht, weil all diese Szenarien nicht nur nicht existieren, die realpolitischen Entwicklungen gehen auch nicht ansatzweise in diese Richtung. In Deutschland und Österreich sind nur rund 25 Prozent der Professor*innen Frauen, Kinder wachsen nach wie vor inmitten einer dominanten und strengen Kultur der Heterosexualität auf. Mit den tatsächlichen Verhältnissen haben derartige alarmistische Diskussionen nicht zu tun.

Lust an der Dramatisierung

Wie groß die Lust aber offenbar ist, gerade bei diesen gesellschaftspolitischen Themen zu dramatisieren, zeigt eben besagte Sendung, die schon mit dem Titel "Sensibilisieren wir uns Tode?" in die Vollen geht. Dieser und auch die Beschreibung der Sendung zeigen, wie schief die Bilder sind, die hier erzeugt werden. Schon klar, dass ein Titel überspitzt sein soll. Aber wirklich vom "Sterben" sprechen und "Black Lives Matter" als Beispiel für "die wachsende Empfindlichkeit bei Einzelnen und in der Gesellschaft" bringen? Zur Erinnerung: "Black Lives Matter" ist entstanden, weil Schwarze durch Polizeigewalt getötet wurden. Also noch einmal: Wovon reden wir hier eigentlich?

Vielleicht beobachten wir hier vielmehr eine stark ausgeprägte Sensibilität von Menschen, die bisher in Medien, an Unis oder in der Politik allein das Sagen hatten? Wie schwer das offenbar für viele zu ertragen ist, zeigte auch die Diskussion um die Frankfurter Buchmesse, die von der Autorin Jasmina Kuhnke und anderen Autor*innen boykottiert wurde. Warum? Weil jemand nicht gendergerecht geschrieben oder nicht verstanden hat, wofür die Abkürzung PoC steht? Natürlich nicht, sondern zu dem Boykott kam es, weil ein rechter Verlag mit einem stramm faschistischen Programm sich direkt neben jener Bühne einmieten durfte, auf der Kuhnke aus ihrem Roman "Schwarzes Herz" lesen wollte. Das ist auch schon wieder fast zwei Monate her, ist aber freilich heute – wie in besagter Sendung – und wohl noch in Zukunft eine willkommene Anekdote für gar nicht wenige Feuilletonist*innen, um antirassistisch und feministisch engagierten Menschen in langen und fast schon trotzig im generischen Maskulinum gehaltenen Texten zu erklären, wie "hypersensibel" doch inzwischen "alle" sind." Außer sie selbst.

Internet mit politischer Bewegung verwechseln

Man müsse sich doch gemeinsam "empowern", statt sich zurückziehen, so lautet etwa der Ratschlag von Flaßpöhler, die sich letztens in einem ganzen Buch der Sensibilität gewidmet hat ("Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren", Klett-Cotta Verlag). Nun, wie sehr und wie oft sich nicht-weiße Menschen im Alltag wohl oder übel "empowern" müssen, obwohl sie nicht gerade damit gerechnet haben, rassistisch angepöbelt zu werden – geschenkt? Ratschläge von weißen Menschen zu Rassismus und wie People of Color mit extrem rechten Ideologien in unmittelbarer Nähe umgehen sollten – immer gerne?

Anfang der Jahres wurde Jasmina Kuhnkes Adresse im Netz geleakt, worauf sie massig Drohungen erhielt und dass man sie "massakrieren" wolle. Es klingelte an die 40-mal an ihrer Haustüre mit Essensbestellungen, die sie nie aufgegeben hatte. Man wollte ihr zeigen, "wir wissen wo du wohnst".

Wenn nun jemand solch locker flockige Handlungsempfehlungen wie jene von Flaßpöhler als ignorant gegenüber einem völlig anderen Bedrohungsszenario für eine schwarze Frau von rechter Seite kritisiert – ist das dann schon wieder die gern bemühte "Überempfindlichkeit"? Dann sollte aber bitte auch umgekehrt die Frage diskutiert werden, wer denn hier empfindlich ist? Womöglich doch eher die, die nicht mehr eine unhinterfragte intellektuelle Autorität auf allen Kanälen genießen?

Apropos Kanäle. Nur weil einem auf Twitter oder sonst wo im Netz wegen einer holpertatschigen, unbedachten Formulierung mal ein kleiner Shitstorm mit einigen "Megasexist"-, "Chauvi"- oder "transfeindlich"-Zurufen entgegenschlägt, ist man noch lange nicht Zeuge oder Zeugin eines alles durchdringenden Tugendterrors geworden. Deshalb ist man noch lange nicht Opfer einer angeblichen identitätspolitischen Übermacht, in der in bester neoliberaler Manier nur mehr die Wehwehchen des Einzelnen zählen würden. Die Autorin Mithu Sanyal hat in diesem Zusammenhang in der Schweizer Sendung "Sternstunde Philosophie" einmal eine sehr wichtige Beobachtung geäußert: Sie habe den Eindruck, dass man ständig Internet und Identitätspolitik verwechsle. Die politischen Bewegungen also mit dem gleichsetzt, wie soziale Plattformen funktionieren.

Auch Gewalt ist "Genderthema"

Das stimmt: Emanzipatorische Bewegungen, ihre Kritik und ihre Vorschläge werden gern auf einige unterirdische Töne im Netz reduziert, pauschal als überzogen und als gesellschaftsspaltend dargestellt. Wovon wir aber im Grunde reden, wenn wir etwa "Genderdebatten" sagen, bleibt dann getrost außen vor. Denn auch das Problem der Gewalt an Frauen, mit dem Österreich wie auch Deutschland massiv zu kämpfen haben, ist nichts anderes als eine "Genderdebatte". Denn es ist geschlechterspezifische Gewalt. Mit den Diskursen, in denen Gender- und Rassismusdebatten als lästiger Firlefanz abgetan werden, nehmen sich die Wortführer*innen dieser Diskurse das alleinige Recht heraus, zu bestimmen, was relevant ist und was eben Firlefanz ist. Doch um diese Frage zu diskutieren, sollten wir doch bitte unsere faktischen gesellschaftlichen Verhältnisse als Basis nehmen – keine herbeigefühlten Bedrohungen. (Beate Hausbichler, 12.12.2021)