Als die Grünen vor zwei Jahren in die Koalition mit der ÖVP eingetreten sind, waren sie der deutlich schwächere Partner. Die Volkspartei hatte fast dreimal so viele Abgeordnete und mit Sebastian Kurz einen Parteichef, der nicht nur in den Umfragen an der Spitze blieb, sondern auch wusste, wie man auf der Klaviatur der Macht spielt. Lange Zeit haben die Türkisen die Grünen diese Überlegenheit spüren lassen, ja sie in vielen Themen – vor allem Migration und Pandemiebekämpfung – vor sich hergetrieben, bis auch Politprofis wie Rudolf Anschober entnervt aufgaben.

Doch durch die Turbulenzen in der ÖVP hat sich das Kräfteverhältnis in der Koalition geändert. Gerade die Grünen haben sich als Stabilitätsanker erwiesen, während der ÖVP ihr stärkstes Zugpferd und Meistertaktiker abhandengekommen ist. Zwar hat sich die Zahl der Nationalratsabgeordneten nicht verändert, sehr wohl aber das Kräfteverhältnis in den Umfragen, wo die Grünen anders als die ÖVP keine Einbußen erlitten haben. Würde heute gewählt werden, wäre die Volkspartei nur noch doppelt so stark wie die Grünen.

Vizekanzler Werner Kogler bei der Landesversammlung der Wiener Grünen im Oktober.
Foto: APA/HANS PUNZ

Das ist eine Chance für die grüne Partei, die sie nützen kann, um ihre eigene Agenda stärker durchzusetzen. Denn die Drohung mit Neuwahlen trifft die ÖVP viel härter als die Grünen. Natürlich könnten sie trotz eines starken Wahlergebnisses aus der Regierung fliegen. Aber dieses Risiko sollte die Truppe rund um Werner Kogler nicht davon abhalten, ein wenig ihre Muskeln spielen zu lassen. Wenn politische Macht nicht für Inhalte genutzt wird, dann hat sie wenig Wert.

Das ist ganz besonders wichtig, weil der neue Kanzler Karl Nehammer nun unter parteiinternem Druck steht, den Grünen den Herrn zu zeigen – vor allem nach dem ungeliebten Baustopp für den Lobautunnel durch Verkehrsministerin Leonore Gewessler. Der neue Innenminister Gerhard Karner gilt überhaupt als Hardliner in der Migrationspolitik, der dieses Image wohl weiterpflegen wird.

Demokratiereform

Beim Thema Migration und Asyl ist für die Grünen wenig zu holen. Da haben ihre Ministerien keinen Einfluss, da kann die ÖVP laut Koalitionspakt mit der FPÖ zusammengehen. Anders bei der Demokratiereform: Hier wäre es an der Zeit, dass die Grünen auf die Umsetzung des vereinbarten Transparenzgesetzes zur Abschaffung des Amtsgeheimnisses pochen und unter dem Eindruck der jüngsten Affären ein neues Parteienfinanzierungsgesetz einfordern.

Auch in der Klimapolitik ist mit dem jüngsten Budgetbeschluss das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Es gibt abseits vom Straßenbau noch viele Fragen bei der Umsetzung, bei denen die Grünen Durchsetzungskraft demonstrieren können – auch gegenüber dem neuen Finanzminister Magnus Brunner, der bisher vor allem Wirtschafts- und Energieinteressen vertreten hat.

Und bereits am Mittwoch kann Wolfgang Mückstein Regierungskollegen und Landeshauptleute höflich darauf hinweisen, dass es der Gesundheitsminister ist, der per Verordnung über Ende oder Verlängerung des Lockdowns entscheidet.

Wie jede Partnerschaft ist die Koalition von Psychologie geprägt. Die nächsten Wochen werden darüber entscheiden, wie sich die weitere Regierungsarbeit gestaltet. Eine verunsicherte ÖVP könnte dazu neigen, bei möglichst vielen Themen auf Blockade zu setzen. Es liegt an den Grünen, dafür zu sorgen, dass sie damit nicht so leicht durchkommt. (Eric Frey, 7.12.2021)