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STANDARD: Angela Merkels Kanzlerschaft endet nun. Kann man derzeit schon eine historische Einschätzung abgeben?

Nolte: Wir erleben gerade in den letzten Wochen, dass das Bild der Kanzlerschaft Merkels noch nicht feststeht. So etwas ergibt sich häufig erst mit einem gewissen Abstand. Aber natürlich konnte man immer schon am Ende einer Regierungszeit eine gewisse Einordnung vornehmen.

STANDARD: Was ließ sich bald über die deutschen Kanzler sagen?

Nolte: Noch bevor der Sozialdemokrat Willy Brandt 1974 zurücktrat, war klar, dass seine Kanzlerschaft Zäsur und einen neuen Aufbruch für Deutschland bedeutete. Zuvor, bei Ludwig Erhard (CDU, 1963–1966, Anm.), wusste man, dass es keine große und bedeutende Kanzlerschaft war, sie endete ja auch nach drei Jahren. Und bei Helmut Kohl (CDU, 1982–1998, Anm.) war schon vor dem Abgang klar: Er ist der Kanzler der Einheit. Das Bild Merkels hat sich jedoch schon seit der Bundestagswahl im September beträchtlich verschoben. Das deutet darauf hin, dass sich dies in den Geschichtsbüchern fortsetzen könnte.

Angela Merkel regierte Deutschland 16 Jahre lang.
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STANDARD: Welche Veränderungen haben Sie wahrgenommen?

Nolte: Bis zum Wahltag las und hörte man oft von einer doch großen und ruhmreichen Kanzlerschaft, nach dem Motto: Wie hat die Frau es nur geschafft, Deutschland so gut durch viele Krisen zu führen – insbesondere seit der Bankenkrise 2008. Das wird als Verdienst bleiben. Aber es kam doch eine kritische neue Note dazu, weil das Wahlergebnis der Union am 26. September so schlecht war.

STANDARD: Aber Kritik an Merkel gab es immer.

Nolte: Klar, die kam von allen Seiten. Die einen klagten, dass sich Mehltau über das Land gelegt habe und eine lähmende Stille herrsche, was sich weniger auf mangelnde Veränderungen als auf die Stilllegung des politisch-intellektuellen Diskursklimas bezog. Ich fand den Vorwurf falsch adressiert, denn dafür war sie als Kanzlerin nicht zuständig. Dann muss eben die Gesellschaft mehr streiten und Debatten führen.

STANDARD: Andere Kritik richtete sich durchaus an Merkel persönlich.

Nolte: Aus der CDU-Perspektive kam Kritik an der Sozialdemokratisierung, den Linken hingegen passierte nicht genug an Reformen. Die Mehrheit jedoch hat Merkels mittigen Kurs geschätzt. Doch seit der Bundestagswahl hat sich die Tonalität geändert. Bei der Ampelkoalition ist jetzt sehr viel von Transformation die Rede, sie will große Neuerungen anpacken, die bisher versäumt wurden. Das wirft bereits einen leichten Schatten über Merkels Zeit.

STANDARD: Noch ist nichts passiert, die Ampel muss sich erst beweisen.

Nolte: Natürlich, da ist viel Hype dabei und Selbstinszenierung, und bis zur Wahl hat Olaf Scholz ganz anders geklungen, sich als Bewahrer von Merkels Erbe präsentiert. Aber es gibt jetzt schon eine Resonanz in den Medien und in der Bevölkerung, dass nun eine neue Zeit anbrechen soll, weil Merkel die Dinge nicht energisch genug angepackt habe.

STANDARD: Vor der Wahl machte Scholz ja sogar die Merkel-Raute.

Nolte: Nun habe ich den Eindruck, dass Problemstellungen schärfer gefasst werden. Man fragt sich, warum dauert in Deutschland immer alles so lange? Wir haben eine Debatte darüber, wie man Effizienz und Schnelligkeit steigern kann. Das kann man nicht mehr so leicht als neoliberal abtun wie früher, das kommt jetzt auch aus einer linken, einer ökologischen Position.

Paul Nolte hält Angela Merkel für eine große Kanzlerin – und legt dar, warum.
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STANDARD: Kann sich die Bewertung einer Kanzlerschaft durch das Agieren der Nachfolgeregierung verändern?

Nolte: Ja, aber mehr noch durch die Maßstäbe in der Gesellschaft. Man sieht das beim ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer (CDU, 1949–1963). Er galt lange als Gründungskanzler und Demokratiebegründer. Die Debatten über die NS-Kontinuitäten in der noch jungen Bundesrepublik folgten erst später.

STANDARD: Würden Sie Merkel als große Kanzlerin bezeichnen?

Nolte: Ja, das würde ich tun. Man darf ja die internationale Ebene nicht vergessen, wo Merkel über die Krisen hinweg sich vom Grundmotiv hat leiten lassen, die Europäische Union zusammenzuhalten. Zudem setzte sie Donald Trump und anderen Populisten starkes demokratisches Leadership entgegen. Im Herbst 2016 wurde ich in Oxford mit leuchtenden Augen auf Merkel angesprochen. Viele beneideten Deutschland um seine Kanzlerin, in Großbritannien stand der Brexit bevor.

STANDARD: Merkels Amtszeit endet in sehr schwieriger Zeit, Stichwort Corona. Kann dies die Gesamtbewertung noch beeinflussen, oder wird es eines Tages nur ein Mosaikstein sein?

Nolte: Es ist zu früh, um dies zu bewerten, da ist das historische Urteil noch offen. Es wird erst später über Verantwortungen und Versäumnisse zu befinden sein. Jedenfalls ist die Pandemie eine Krise, die sie nicht so leicht lösen konnte wie die Finanzkrise, als sie mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück vor die Kameras trat und erklärte, die Spareinlagen seien sicher.

STANDARD: Merkel geht, ihre Nachfolger haben das Kanzleramt verspielt, es geht an SPD-Mann Scholz. Wäre ein fünftes Antreten Merkels ratsam gewesen?

Nolte: Ich bin kein Anhänger der Amtszeitbegrenzung, wie es sie in den USA gibt. Aber vier Amtszeiten waren wirklich genug. Da muss man erst mal abwarten, wer das als Nächstes so lange schafft. Einen Fehler Kohls hat Merkel ja als CDU-Chefin wiederholt: Sie regelte ihre Nachfolge nicht ordentlich. Wenn sie Annegret Kramp-Karrenbauer stärker unterstützt hätte, dann wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen. Aber Kramp-Karrenbauer hatte zu wenig Rückendeckung von Merkel. (Birgit Baumann, 7.12.2021)