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Die passenden Souvenirs zum Videogipfel gibt es in Moskau bereits.

Foto: AP/Pavel Golovkin

Wenn sich Joe Biden und Wladimir Putin an diesem Dienstag in einer Videokonferenz digital gegenübersitzen, wird das mit Abstand das heikelste Gespräch sein, das Joe Biden seit seinem Amtsantritt vor zehn Monaten führen musste. Es geht um viel bei diesem Termin: um die Eskalation eines seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen Ost und West und um das Schicksal der Ukraine als eigenständiger, unabhängiger Nation.

Die Situation ist ernst. Wie aus US-Regierungskreisen zu erfahren ist, beobachten die USA seit Wochen massive Truppenbewegungen der Russen an der Grenze zur Ukraine. Schon im Jänner 2022 könnten rund 175.000 russische Soldaten entlang der Grenze zur Ukraine stehen. Geheimdienstkreise halten sogar noch höhere Zahlen für denkbar.

Noch sei es völlig unklar, was Moskau mit dieser Mobilmachung bezweckt und ob ein Einmarsch in die Ukraine bereits beschlossen sei. "Wir wissen nicht, ob Präsident Putin eine Entscheidung getroffen hat", sagte Regierungssprecherin Jen Psaki am Montagmittag. "Aber genau deshalb ist das jetzt eine Gelegenheit für ein Gespräch."

Politisch heikle Treffen

Es ist nicht das erste Mal, dass Biden und Putin aufeinandertreffen. Erst im Juni hatten sich die beiden persönlich in Genf getroffen – eine Initiative, die vom US-Präsidenten ausgegangen war und die von seinem russischen Amtskollegen öffentlich wertgeschätzt wurde. Auch wenn die Begegnung politisch nur geringe Bedeutung hatte, führte sie zu einem neuen, pragmatischeren Ton zwischen Washington und Moskau. "Putin sollte wissen, was ich wann tue und wann ich wie reagieren werde", hatte Biden nach dem Treffen betont. Es gehe ihm beim Dialog mit Moskau um Vorhersehbarkeit und Stabilität.

Der Wunsch nach Stabilität währte nicht lange. Bereits im Juli folgte ein außerplanmäßiges eineinhalbstündiges Telefonat zwischen Biden und Putin. Anlass waren zahlreiche Cyberattacken auf US-Einrichtungen, die offenbar von russischen Hackern verübt worden waren. Biden machte Putin nicht direkt für die Angriffe verantwortlich. Der Kreml habe jedoch "die Verantwortung zu handeln", so die Sprecherin des Weißen Hauses damals. Eine deutliche Zunahme der Cyberattacken auf die Ukraine sei ein weiteres Alarmsignal für die US-Regierung, dass eine Militäraktion der Russen bevorstehen könnte.

Informations- und Cyberkriegsführung

Eine ähnlich hohe Konzentration von Anti-Ukraine-Propaganda in den sozialen Netzwerken habe man zuletzt 2014 beobachtet, unmittelbar vor den Ausbrüchen der Kämpfe in Donezk und Luhansk. Informations- und Cyberkriegsführung seien bekannte russische Taktiken und kämen auch in diesem Konflikt zum Einsatz. Fragen, ob die USA auf eine russische Invasion der Ukraine auch militärisch reagieren würden, wichen die Regierungssprecher aus. Sowohl der US-Präsident als auch sein Außenminister vermieden es, sich auf eine rote Linie festlegen zu lassen, die nicht überschritten werden dürfe.

Stattdessen war immer wieder die Rede von wirtschaftlichen Sanktionen, sollte Putin den Marschbefehl in die Ukraine erteilen. Ein hoher Regierungsbeamter hatte am Montag davon gesprochen, dass Putin mit "schwerwiegenden wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen" rechnen müsse, sollte er sich für eine Invasion entscheiden. Eine direkte militärische Einmischung der USA schloss er zu diesem Zeitpunkt aus.

Verbündete gefragt

Allerdings würde es in einem solchen Fall eine "erhöhte Nachfrage von Verbündeten an der Ostflanke geben". Die USA würden die Nato-Staaten dann mit zusätzlichen Soldaten, Ressourcen und Übungen unterstützen. Im Vorfeld des Videogesprächs mit Putin hat sich Biden am Montagabend mit seinen europäischen Bündnispartnern abgestimmt.

An der Telefonkonferenz nahmen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron, der italienische Regierungschef Mario Draghi und der britische Premierminister Boris Johnson teil. Wie das Weiße Haus mitteilte, haben alle Teilnehmer dabei der Ukraine ihre Unterstützung zugesagt und sich für eine diplomatische Lösung des Konflikts ausgesprochen.

Kritik von vielen Seiten

Der US-Präsident steht zu Hause auch unter Beschuss der Medien. Das "Wall Street Journal" warf dem Demokraten eine zu weiche Gangart vor. Der Iran, Russland und China strebten neue regionale Hegemonien an. "Ihre Führer scheinen nicht zu glauben, dass Biden etwas tun kann oder wird, um sie zu stoppen." Biden breche damit sein Wahlversprechen, wesentlich härter als sein Vorgänger Donald Trump gegenüber Putin aufzutreten.

Der US-Präsident seinerseits versprach im Vorfeld des Gesprächs, Initiativen zu lancieren, die es Putin erschweren sollen, "das zu tun, wovor die Menschen Angst haben, dass er es tut" – wohl ein Verweis auf die Spekulationen über einen russischen Angriff auf die Ukraine.

Afghanistan, Syrien, Libyen

In Moskau sieht man den Verhandlungen gespannt entgegen: Es stehe ein "ziemlich ausführliches" Gespräch bevor, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag. Die Staatschefs würden neben der Ukraine auch die Krise im bilateralen Verhältnis sowie das Vordringen der Nato an Russlands Grenzen erörtern. Präsidentenberater Juri Uschakow hatte als mögliche Themen auch die Lage in Afghanistan, Syrien und Libyen genannt.

Zweifellos sind aus russischer Sicht aber Ukraine-Krise und Nato-Expansion die vordringlichsten Themen. Moskau dementiert Angriffspläne gegen seinen Nachbarn, fordert zugleich aber Sicherheitsgarantien. Verschärft wurde die Lage zuletzt durch die angedrohte Stationierung von Atomraketen. Auf westlicher Seite sind dabei Polen und Rumänien im Gespräch, auf östlicher Belarus.

Während dies wohl eher Säbelrasseln ist, um die jeweils andere Seite unter Druck zu setzen, hofft Putin bei dem Gespräch vor allem auf Entgegenkommen bei der Nato-Osterweiterung. So hatte der Kreml-Chef kürzlich schriftliche Garantien gefordert, dass die Nato keine weiteren Beitritte im Osten zulassen werde. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass es beim Gespräch dabei zu einer Einigung kommt. (Richard Gutjahr aus Washington, André Ballin aus Moskau, 7.12.2021)