Nachdem Sebastian Kurz zurückgetreten war, waren Schwarze und Türkise so geschwätzig wie selten sonst. Was in der Partei beschlossen wurde, ging fast zeitgleich nach draußen. Dass Karl Nehammer Kanzler wird, die Ministerrochade, all das war vor der Verkündigung längst bekannt. Es wurde gemunkelt und geplaudert – bis Montag.

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Der Altkanzler, der Neokanzler und ihr Vize: Alexander Schallenberg, Karl Nehammer und Werner Kogler in der Hofburg.
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Am Tag der Angelobung Nehammers war das plötzlich wieder anders: Man müsse dem neuen Kanzler doch erst einmal Zeit geben, sich zu positionieren. Selbst im Hintergrund wollten nur wenige darüber sprechen, was die Partei von Nehammer erwartet – und was auf ihn zukommt. DER STANDARD hat dennoch nach Antworten gesucht – und einige gefunden.

Pandemiemanagement

Für Mittwoch hat Nehammer zu seinem ersten großen Gipfel im Kanzleramt geladen. Dann müssen sich Bundesregierung und Landeshauptleute auf die weiteren Schritte in der Pandemiebekämpfung einigen. Der bundesweite Lockdown soll, so hat es Nehammers Vorgänger Alexander Schallenberg versprochen, mit dem Ende der Woche für alle Geimpften und Genesenen enden. Doch schon jetzt wurden Stimmen laut, die das infrage stellen – allen voran der grüne Vizekanzler Werner Kogler, der nicht davon ausgeht, dass am Montag alles über Nacht wieder aufsperrt. Anders sehen das manche in der ÖVP, die Schallenbergs Versprechen von Nehammer eingelöst haben wollen. Tourismusministerin Elisabeth Köstinger drängt auf ein Mindestmaß an bundesweiten Regeln. Alles andere sollen sich die Länder selbst ausschnapsen. Für den Neokanzler ist das Treffen die erste Herausforderung: Steht er an der Seite des Koalitionspartners oder der ÖVP-geführten Länder? Wahrscheinlich in der Mitte: Öffnen mit strengen Begleitmaßnahmen.

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Auf Corona-Abstand wurde Karl Nehammer von Bundespräsident Alexander Van der Bellen als Kanzler angelobt
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Regierung stabilisieren

Neben dem Pandemiemanagement wird es Nehammers größte Aufgabe sein, seine eigene Regierung wieder zu stabilisieren. Die Koalition ist seit den Hausdurchsuchungen im Kanzleramt und in der ÖVP-Zentrale Anfang Oktober nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die Grünen sind derzeit zwar sehr bemüht, Nehammer zu loben und zu preisen – bei der Öko-Partei ist die Hoffnung groß, dass die Regierung hält und die Zusammenarbeit wieder besser wird. Anders als Ex-Kanzler Kurz suche Nehammer das Gespräch, um sich ernsthaft auszutauschen, hört man von Grünen. Er wisse auch, wie "Leadership" funktioniere. Ob das gelingt, da will selbst in Regierungskreisen niemand eine Wette eingehen. Doch der Wille sei da – auf allen Seiten. Damit einher geht auch, dass Nehammer und sein Team das Vertrauen der Bevölkerung zurückerobern müssen. "Er hat dafür zumindest ein gutes Sensorium", sagt ein Grüner.

Die ÖVP zusammenhalten

Die türkise ÖVP von Sebastian Kurz ist zerfallen. Einige Vertrauensleute des Ex-Kanzlers wollten oder mussten mit ihm die Politik verlassen. Gleichzeitig habe es Nehammer jetzt mit "frei fliegenden Landeshauptleuten" zu tun, wie es jemand aus der ÖVP formuliert. "Es ist wie eine Rückkehr zur Zeit vor 2017." Nehammer, sagen viele, die ihn kennen, sei ein guter Zuhörer und ein "verbindender Typ". Aber, da sind sich die meisten einig: Die schwarzen Landeshauptleute könne kein Parteichef einfangen ohne bombastische Umfragewerte – und die hat die Volkspartei derzeit wahrlich nicht.

Eine Annäherung an die SPÖ

Der Politikbeobachter Thomas Hofer denkt aber schon weiter. "Es ist zwar keine Sache, die man sofort angeht", sagt er. "Aber eine Aufgabe von Nehammer wird es sein, die Gesprächsbasis zur Sozialdemokratie wiederherzurichten." Unter Kurz sei das undenkbar gewesen. Der Altkanzler habe sich stets als Antipode zur SPÖ positioniert. Unter Nehammer könnte sich das wieder ändern, glaubt Hofer. Auch rein aus Machtstreben: Wann immer die nächsten Wahlen kommen, wird die ÖVP Optionen brauchen, um weiterregieren zu können. Tatsächlich gab es bereits eine erste Annäherung zwischen Nehammer und der Sozialdemokratie: Nehammer und SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner haben telefoniert, diese Woche soll ein Treffen stattfinden. Der neue Kanzler sende Signale der Dialogbereitschaft, hört man aus der SPÖ-Zentrale.

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Ex-, Neo- und Vizekanzler.
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Positionierung im Bereich Asyl

Politikberater Hofer sagt: Nehammer muss nun jene Wählerinnen und Wähler bei der Stange halten, die noch mit Kurz emotional verbunden sind. Dass Nehammer das versucht, habe sich bereits bei seiner Antrittsrede gezeigt. Da habe der Ex-Innenminister die Kurz-Doktrin von Leistung und die türkisen Positionen zu Migration sowie Steuerentlastung eins zu eins übernommen. Kurz’ Erfolg begründete sich aber auch darin, dass er FPÖ-Wähler für sich gewann. In der ÖVP heißt es: Nehammer werde den Kurs von Kurz in Asyl- und Migrationsfragen beibehalten. Schwierig wird dabei, wie er sich hier klar positionieren kann, ohne die derzeit durchaus selbstbewussten Grünen zu vergrämen, mit denen er eigentlich eine gute Beziehung aufbauen will. Auch für Hofer bleibe es fraglich, ob Nehammer die einst blauen Stimmen halten kann. Dafür müsste er in diesem Bereich glaubwürdiger auftreten als FPÖ-Chef Herbert Kickl, zu dem er ein sehr schlechtes Verhältnis hat.

Der nächste U-Ausschuss

In einem neuerlichen U-Ausschuss wollen sich Opposition und Grüne die mögliche Korruption durch die ÖVP genauer ansehen. Wohl auch deshalb hat Nehammer noch vor seinem Antritt die Partei aufgeräumt. Seine Verstrickung in die Causa Casinos soll ein Mitgrund für den Rücktritt Gernot Blümels gewesen sein. Der Ex-Finanzminister wird als Beschuldigter geführt. Aber auch Bernhard Bonelli, Kurz’ Kabinettschef, wird unter Nehammer nicht mehr weitermachen. Ihm wird eine Falschaussage im U-Ausschuss vorgeworfen. Markus Gstöttner, der unter Kurz Vizekabinettschef im Kanzleramt war, steigt unter Nehammer hingegen zum Leiter des Kanzlerbüros auf. Gerald Fleischmann ist nun Referent im ÖVP-Klub. (Oona Kroisleitner, Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 6.12.2021)