Markus Ragger: "Es gibt bei der WM keinen Moment, in dem man nicht an die nächste Partie denkt. Wenn die eine Partie fertig ist, muss man sofort an die nächste denken."

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Dubai – Als Magnus Carlsen nach der achten Partie gegen Jan Nepomnjaschtschi zu seinen Chancen auf eine erfolgreiche Titelverteidigung bei der Schach-WM gefragt wurde, fiel die Antwort kurz, aber deutlich aus. "Sehr gut", sagte der Weltmeister.

Aber was bedeutet "Sehr gut" in Zahlen? Der österreichische Großmeister Markus Ragger spricht vor der neunten Partie am Dienstag von "95 Prozent". Kein Wunder, denn von seinen bisherigen 53 klassischen WM-Partien hat Carlsen lediglich zwei verloren.

Nun aber müsste Herausforderer Nepomnjaschtschi seinen Kontrahenten in maximal sechs verbleibenden Partien zweimal schlagen, um ein Tiebreak zu erzwingen – das scheint nahezu ausgeschlossen.

Bislang ist es in der Schachgeschichte nur zwei Herausforderern gelungen, einen Zwei-Punkte-Rückstand gegen den amtierenden Weltmeister zu drehen: dem Niederländer Max Euwe 1935 gegen Alexander Aljechin und dem US-Amerikaner Bobby Fischer 1972 gegen Boris Spasski.

Magnus Carlsen steht vor seinem fünften WM-Titel.
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STANDARD: Ist der Kuchen für Magnus Carlsen schon gegessen?

Ragger: Ich sehe die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Titelverteidigung bei 95 Prozent. Zu einem großen Teil ist der Kuchen also gegessen. Vor dem Turnier haben Fachleute die Chancen für Carlsen auf 70 Prozent geschätzt. Jetzt ist die Favoritenrolle noch deutlicher vergeben als zu Beginn des Turniers.

STANDARD: Carlsen hat zuletzt 2016 im Rahmen der Weltmeisterschaften verloren. Ist er überhaupt zu biegen?

Ragger: Die Niederlage gegen Sergej Karjakin hat Carlsen zudem unter anderen Bedingungen bezogen. Das Match stand damals noch unentschieden. Jetzt hat er zwei Punkte Vorsprung, kann also mehr auf Sicherheit setzen. Das macht die Ausgangslage für Nepomnjaschtschi noch ein Stück komplizierter.

STANDARD: Ist Nepomnjaschtschi mit seinem Latein am Ende?

Ragger: Er muss sich mit Schwarz etwas einfallen lassen. Spielt er so weiter wie bisher, kann Carlsen problemlos das Remis erzwingen. Dann würden Nepomnjaschtschi nur noch drei Partien mit Weiß bleiben, von denen er wiederum zwei gewinnen müsste.

STANDARD: Muss der Herausforderer also das Risiko mit Schwarz erhöhen?

Ragger: Sollte er sich dazu entscheiden, erhöht er seine Gewinnchancen nicht in gleichem Maße wie die Verlustchancen. Wenn er die Gewinnchance um zehn Prozent erhöht, steigt die Verlustchance um 60 Prozent. Er müsste aus der Eröffnung heraus eine schlechte Stellung in Kauf nehmen. Und das kann leicht schiefgehen.

STANDARD: Am Dienstag spielt Nepomnjaschtschi mit Weiß. Geht da was?

Ragger: Diese neunte Partie ist vermutlich seine letzte Chance. Sollte Nepo nicht gewinnen, wird Carlsen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Weltmeister bleiben. Mit Schwarz stand Carlsen bisher allerdings sehr sicher. Für Nepomnjaschtschi gibt es keinen einfachen Weg zu einem vollen Punkt.

Jan Nepomnjaschtschi hat nur noch eine Chance: volles Risiko.
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STANDARD: Carlsen und Nepomnjaschtschi haben schon zusammengearbeitet. Ist es unter diesen Vorzeichen überhaupt noch möglich, den Champion entscheidend zu überraschen?

Ragger: Die Spitzenspieler kennen sich ohnehin sehr gut. Zudem war die Zusammenarbeit zwischen Carlsen und Nepomnjaschtschi nicht sehr intensiv. Man würde sich keinen direkten Konkurrenten als Sekundanten holen. Die Eröffnungsgeheimnisse teilt man nicht gerne.

STANDARD: Wie wichtig ist Routine in so einer Begegnung?

Ragger: Carlsen kann mit dem Druck sicher besser umgehen. Er bringt Erfahrung von vier Weltmeisterschaften mit. Nepomnjaschtschi ist immer gut vorbereitet. Aber dass ihm vier, fünf Spieler über Monate helfen, Varianten zu bauen, sein Repertoire zu verfeinern – das ist wohl Neuland für ihn.

STANDARD: Nepomnjaschtschi hat in Partie acht einen schweren Fehler gemacht. Wie konnte das passieren?

Ragger: Er war mit dem Verlauf der Partie bis zu diesem Zeitpunkt sicher unzufrieden. Die Situation war bereits unangenehm, es gab kein leichtes Remis zu holen. Er war mit den Gedanken vermutlich nicht ganz bei der aktuellen Stellung. Und dann kommt die Müdigkeit dazu.

STANDARD: Der Zeitplan bei der WM ist straff. Wie kann der Kopf diese mentale Aufgabe bewältigen?

Ragger: Es gibt keinen Moment, in dem man nicht an die nächste Partie denkt. Wenn die eine Partie fertig ist, muss man sofort an die nächste denken. Ich nehme an, dass beide Spieler sich professionelle Techniken zur Entspannung angeeignet haben.

STANDARD: Die sechste, epochale Partie dauerte acht Stunden. Wie sehr laugt das aus?

Ragger: Nach der Partie tritt die Leere ein. Man ist müde, man ist fertig. Und man hat kaum Zeit, sich zu erholen. Aber das Ergebnis macht einen gewaltigen Unterschied. Nepo hat als Verlierer sicher nicht gut geschlafen. Carlsen wird hingegen eine große Erleichterung verspürt haben.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 6.
Österreichischer Schachbund

STANDARD: Kann der Gewinner die Partie schneller abhaken?

Ragger: Bestimmt. Als Gewinner hängt man nicht an den Fehlern. Als Verlierer gehen einem alle Situationen, in denen man besser hätte spielen können, noch einmal durch den Kopf. Was wäre anders gewesen, wenn ich diesen Zug statt diesem Zug gespielt hätte?

STANDARD: War dieser Sieg nach acht Stunden tatsächlich eine der größten Partien der WM-Geschichte?

Ragger: Es ist schwierig, das Niveau verschiedener Partien zu vergleichen. Die Qualität lässt sich nicht so einfach messen. In puncto Spannung und Kampfgeist war es aber zweifellos eine der besten Begegnungen, die es je gegeben hat. An diese Partie wird man sich lange erinnern.

STANDARD: Es gibt aufgrund der Remis-Serien immer wieder Diskussionen über das Format des Turniers. Ist der Modus mit dieser Weltmeisterschaft rehabilitiert?

Ragger: Das Kandidatenturnier mit acht Teilnehmern ist spannender zu verfolgen als die Weltmeisterschaft. Es ist jeden Tag eine gute Partie dabei. Aber der direkte Wettkampf zwischen zwei Spielern sorgt für enormes mediales und öffentliches Interesse. Diese Zuspitzung zieht, das funktioniert. (Philip Bauer, 7.12.2021)