Das Magnetfeld der Erde ist alles andere als konstant. Im Schnitt kommt es sogar alle 200.000 Jahre zu einer Polumkehr, die nun überfällig ist.

Illustration: Nasa

Über Jahrhunderte dümpelte er nur langsam durch die arktische Insellandschaft Nordkanadas. Doch seit den 1990er-Jahren hat die Bewegung des magnetisches Nordpols an Fahrt aufgenommen. Seitdem wandert er bis zu 55 Kilometer pro Jahr in Richtung Sibirien. Kündigt diese Veränderung nun einen Polsprung an, wie oft vermutet wird?

Immerhin kommt eine derartige Neuorganisation des Erdmagnetfelds statistisch betrachtet alle 200.000 Jahre vor. Die letzte Umpolung liegt mit der sogenannten Brunhes-Matuyama-Umkehr aber schon 780.000 Jahre zurück. Vor 42.000 Jahren kam es ebenfalls zu einer Auflösung des normalen, dipolaren Zustands, wenn auch nicht zu einem Polsprung. Es lohnt also, mehr über die Vergangenheit herauszufinden, um den Ablauf künftiger Ereignisse im Erdmagnetfeld abschätzen zu können.

Beschleunigte Wanderung

Genau in diesem Bereich arbeitet Patrick Arneitz. Der Geophysiker beschäftigt sich am Conrad-Observatorium der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG), einer Forschungseinrichtung des Wissenschaftsministeriums, mit der Erforschung jener Spuren, die frühere Ereignisse im Erdmagnetfeld hinterlassen haben. Dass eine Polumkehr unmittelbar bevorsteht, wie viele Berichte nahelegen, hält er für alles andere als gesichert.

"Die beschleunigte Wanderung des magnetischen Pols deutet nicht direkt auf eine Umpolung hin", betont der Wissenschafter. Eher noch würde die ebenso zu verzeichnende Abnahme der globalen Feldstärke des Magnetfelds in den letzten knapp 200 Jahren um etwa zehn Prozent ein Indiz dafür sein.

Denn bei jeder Umpolung vermindert sich diese auf nur zehn bis zwanzig Prozent des Ursprungswerts. "Rechnet man die aktuelle Schwächung in die Zukunft, stünde in etwa 1500 Jahren eine Umpolung bevor", erklärt Arneitz. "Aber niemand kann sagen, ob das eine verlässliche Annahme ist. Derartige Fluktuationen gibt es immer wieder, zuletzt etwa im Frühmittelalter – sie müssen nicht zu einem Polsprung führen."

Magnetische Orientierung auf Exkursion

Dass die Erde überhaupt über ein Magnetfeld verfügt, ist dem flüssigen Eisen im äußeren Erdkern geschuldet. Temperaturunterschiede zwischen den inneren und äußeren Schichten sowie die aus der Erdrotation resultierenden Trägheitskräfte sorgen hier für schraubenförmige Strömungen, die komplexe elektrische Ströme induzieren, umreißt Arneitz die Wirkweise des sogenannten Geodynamo.

"In diesen Strömungen kommt es immer wieder zu Turbulenzen, die dazu führen können, dass das Erdmagnetfeld aus einer aktuellen Vorzugsrichtung kippt." Dann kann es zwischenzeitlich zu dominierenden Multipolzuständen kommen, in denen etwa vier oder acht Pole über die Erde verteilt sind, bevor der Polsprung vollzogen ist und sich wieder ein dipolarer Zustand einpendelt.

Kommt es – wie zuletzt vor 42.000 Jahren – zu keiner Feldumkehr, weil die magnetische Orientierung wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehrt, sprechen die Forscher von einer "Exkursion".

Richtungswechsel im Lavafluss

Teil der Arbeit von Arneitz und Kollegen ist es, nach Gebieten zu suchen, in denen es über Jahrtausende hinweg immer wieder Vulkanausbrüche gab. Denn in den abgekühlten Lavaschichten bleiben Hinweise auf die Vergangenheit des Erdmagnetfelds gespeichert. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt kooperieren die Experten des Conrad-Observatoriums mit Elisabeth Schnepp vom Lehrstuhl für Angewandte Geophysik der Montanuniversität Leoben und ihrem Team, um diese Hinweise zu entschlüsseln.

"Die noch sehr heißen Lavaflüsse enthalten eisenhältige Minerale, deren magnetische Momente parallel zum umgebenden Erdmagnetfeld laufend ihre Richtung wechseln", erklärt Arneitz. "Ab einem gewissen Abkühlungsgrad fehlt aber die Energie für dieses Phänomen, und die magnetische Ausrichtung bleibt dauerhaft bestehen."

Hinweise auf die Vergangenheit

Die Wissenschafter entnehmen Bohrproben aus diesen Lavaströmen von damals, halten dabei genau deren geografische Orientierung fest und messen ihre magnetische Ausrichtung. Die Probe wird dann erhitzt, um ihr eine neue Magnetisierung durch ein bekanntes Labor-Magnetfeld aufzuprägen.

"Aus dem Verhältnis der Magnetisierungen aus Natur und Labor kann man auf die lokale Stärke des erdgeschichtlichen Magnetfelds zurückschließen", erklärt Arneitz. Aus mehreren lokalen Proben wird eine Zeitreihe, aus mehren lokalen Zeitreihen, die über den ganzen Globus verteilt sind, lässt sich eine Modellierung eines ganzen Polsprungs inklusive multipolarer Zwischenstadien anfertigen.

Steirische Vulkane

Eine der jüngsten Analysen basiert auf Gesteinsproben des steirischen Vulkanlands. "Das untersuchte Lavagestein stammt von Vulkanen, die vor 2,5 Millionen Jahren aktiv waren. Hier haben wir sogenannte intermediäre Richtungen gefunden", erklärt Arneitz. "Das bedeutet, dass weder eine normale noch eine inverse Polarität vorlag, sondern ein Zwischenzustand, in dem Multipole das Feld maßgeblich prägten."

Die Daten, die im Journal "Earth, Planets and Space" veröffentlicht wurden, konnten einem sogenannten Cryptochron zugeordnet werden, einem etwa 10.000 bis 30.000 Jahre währenden Ereignis, von dem nicht bekannt ist, ob es sich um einen tatsächlichen Polsprung oder lediglich eine Exkursion handelt.

Auch eine weitere Analyse von Gesteinsproben von der Insel St. Helena steht kurz vor dem Abschluss. Hier gibt es ebenfalls Hinweise auf Abweichungen von normaler oder inverser Polarität vor etwa acht Millionen Jahren.

Archäologische Artefakte

Während man für erdgeschichtliche Ereignisse diese paläomagnetischen Analysen heranzieht, stehen für eine jüngere Vergangenheit weitere Datenquellen zur Verfügung: Archäologische Artefakte wie Ziegel oder Tonscherben der vergangenen Jahrtausende enthalten eisenhaltige Minerale, die im Abkühlprozess nach dem Brennen die Ausrichtung des Magnetfelds festgehalten haben.

Zeitlich näher liegen Datenquellen aus Schiffslogbüchern ab dem 15. Jahrhundert, die auf Abweichungen zwischen geografischer und magnetischer Nordrichtung hinweisen. Seit den 1830ern gibt es globale wissenschaftliche Aufzeichnungen zum Erdmagnetfeld – auch aus Österreich, wo erste Messungen von der Sternwarte des Stifts Kremsmünster stammen.

Keine Hinweise auf Lebensgefahr

Bleibt die Frage: Besteht durch einen Polsprung auch eine Gefahr für das Leben auf der Erde? Die gute Nachricht ist, dass keine gravierenden einhergehenden Folgen wie Massenaussterben nachweisbar sind. Eine heuer im Journal "Science" publizierte Studie schließt auf starke Klimaveränderungen durch das Geschehen vor 42.000 Jahren – wofür aber ebenfalls keine weiteren Belege auffindbar sind.

"In einer Multipolphase könnte kosmische Strahlung, die den magnetischen Feldlinien folgt, an mehreren Orten weit in die Atmosphäre eindringen und womöglich vermehrt Störungen im Stromnetz auslösen", vermutet Arneitz. "Gröbere Auswirkungen würde die Schwächung des Magnetfelds außerhalb der Atmosphäre haben: Für Satelliten im Erdorbit wäre ein Polsprung keine gute Nachricht." (Alois Pumhösel, 13.12.2021)