Geimpft und vorab (PCR)-getestet – immer mehr Menschen treffen sich trotz Lockdowns mit diesen Vorsichtsmaßnahmen.

Veronika sitzt in der Küche ihrer Freundin Theresa und wartet auf ihr Testergebnis. Ihr letzter PCR-Test ist drei Tage her, vor dem spontanen Treffen ist sich keiner mehr ausgegangen. "Hier hast du einen Test, danach wirst du gedrückt", hat Theresa zur Begrüßung gesagt. Ein Strich auf dem Antigentest ist schon zu sehen, der zweite – wenn sie positiv wäre – zeigt sich, wie auch erwartet, nicht. Jetzt ist der Weg frei und dem gemütlichen Abend, gemeinsam mit einer dritten Freundin, steht nichts im Weg.

Szenen wie diese spielen sich derzeit in ganz Österreich ab. Spontane Treffen mit Freunden, Geburtstagsfeiern im kleinen Kreis, ein gemütlicher Kaffeeklatsch am Wochenende. Erlaubt ist das nicht, schließlich befinden wir uns immer noch im Lockdown. Aber, sagt Veronika: "Das hält man doch auf Dauer nicht aus, dieses Leben. Wir sind alle drei geimpft und testen uns regelmäßig, es muss auch einmal gut sein. Wenn ich trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen krank werde, dann soll es halt so sein."

Die Menschen sind Lockdown-müde – und das ist auch verständlich: "Die Situation ist einfach schwer auszuhalten. Das hat nichts mit Unvermögen oder Schwäche zu tun, das möchte ich ganz klar festhalten. Aber wenn man über so lange Zeit immer wieder verzichtet, dann fällt einem das irgendwann einfach schwer", betont Annette Wallisch-Tomasch, klinische und Gesundheitspsychologin und Beraterin beim Onlinedienst Instahelp.

Ungeplanter Verzicht

Denn wir durchleben gerade eine Zeit des massiven Verzichts. Das ist ein mentaler Kraftakt, und dafür braucht es normalerweise Vorbereitung. "Wann verzichten die Menschen? In Notzeiten oder ganz bewusst, aus einer höheren Motivation heraus. Ein gutes Beispiel dafür ist die Fastenzeit", so Wallisch-Tomasch. Da entscheiden sich einige aus religiösen, gesundheitlichen oder auch moralischen Gründen bewusst für den Verzicht. Sie bereiten sich vor, es gibt ein Einleitungsritual, und am Ende zelebriert man ein bewusstes und vor allem geplantes Fastenbrechen. Die ganze Zeit hat man ein bestimmtes Ziel, auf das man sich einlässt. Und genau dieses Ziel braucht das Gehirn auch: eine Belohnung oder einen positiven Gewinn, den man aus so einer Handlung zieht.

Doch diesen Gewinn scheint es beim Lockdown nicht zu geben: "Was wir jetzt erleben, sind wiederholte Fastenzeiten, aber ohne Vorbereitung darauf und ohne klares Ziel. Das menschliche Bedürfnis nach Kontrolle, Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit wird nicht befriedigt, und das löst richtige Ohnmachtsgefühle aus." Denn Menschen wollen sich in Notzeiten – und genau das ist unsere jetzige Situation – an etwas festhalten. Sie brauchen das Gefühl der Planbarkeit, der Wirksamkeit ihres Verzichts und der Bestätigung.

Diese Rückmeldung, dass der Verzicht auf Kontakte tatsächlich Sinn macht, fehlt aber, in der öffentlichen Kommunikation wird viel zu wenig darauf eingegangen. Psychologin Wallisch-Tomasch erklärt: "Wenn die Rückmeldung fehlt, dass sich die Mühe, die wir auf uns nehmen, lohnt, dann entsteht das Gefühl, es ist ohnehin egal, was ich tue, es ändert nichts. Und damit geht natürlich auch die Motivation verloren, sich an die Vorgaben zu halten."

Fehlende Belohnung

Dazu kommt, dass unser Gehirn Bestätigung in Form von Belohnung braucht. Vor allem jene Menschen, die ja "alles richtig gemacht" haben, also die geimpft sind und sich auch regelmäßig testen, trifft das. "Wenn ständig Maßnahmen kommuniziert werden, die dann so nicht halten, fragt man sich spätestens nach der dritten Änderung, ob man im falschen Film ist. Das ist ähnlich wie wenn man einem Kind verspricht, es bekommt Schokolade, wenn es sein Zimmer aufgeräumt hat, und dann verlangt man noch drei weitere Dinge, bevor man das Versprechen erfüllt", beschreibt Wallisch-Tomasch die "Salamitaktik" in der offiziellen Kommunikation zu Lockdown und Maßnahmen.

In Wahrheit ist diese Art der Kommunikation eine Verzweiflungstat, weil alles so unklar ist. Aber es wäre wesentlich besser, klar zu kommunizieren, dass man nicht genau weiß, wie lange es noch dauern wird, denn: "Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar. Sonst steigt irgendwann das Gehirn aus. Unser System kennt nur drei Reaktionen: Kampf, Flucht oder Erstarrung. Wenn es keine konkreten Anhaltspunkte gibt, dann würden wir irgendwann in der Erstarrung landen und sind bewegungsunfähig. Damit das nicht passiert, dissoziiert das Gehirn, es steigt aus der Situation aus und sagt, salopp formuliert, ich mag nicht mehr. Psychologisch gesehen ist das ein sehr gesunder Reflex."

Diese Dissoziation des Gehirns zeigt sich auch daran, dass jene Menschen, die den Lockdown umgehen, kein Unrechtsbewusstsein mehr haben. Für Veronika, Theresa und ihre Freundin zum Beispiel ist es mit dem Test vor dem Treffen erledigt, sie haben für sich entschieden, dass dieses Vorgehen ein verantwortungsvoller Umgang mit der Situation ist.

Positive Kommunikation

Was wirklich wichtig wäre, so die Psychologin, ist eine positive Kommunikation zu dem, was wir schon alles geschafft haben in dieser Pandemie: "Es sind große Errungenschaften, dass wir die Impfung haben, dass wir uns testen können, dass die Behandlungsmöglichkeiten immer besser werden. Das alles kommt viel zu kurz. Dabei könnte es helfen, ein positives Gefühl zu schaffen."

Und man könnte dem Lockdown tatsächlich auch etwas Positives abgewinnen: "Das ist eine ganz besondere Zeit der Achtsamkeit, man kann auch kleine Dinge ganz bewusst tun und wahrnehmen. Klar, es ist schwierig, quasi bei Wasser und Brot das Wasser bewusst zu genießen. Aber das ist die besondere Kunst und die Belohnung, die wir aus dieser Zeit für uns ziehen können."

Denn dass dieser Belohnungseffekt von der Politik bewusst betrieben wird, das ist wohl eher unwahrscheinlich. Umso wichtiger ist es deshalb, sich nicht von der eigenen Verdrossenheit und den Ohnmachtsgefühlen überwältigen zu lassen, sondern für sich diese Eigenwirksamkeit wieder zu finden. (Pia Kruckenhauser, 8.12.2021)