Nicht nur bei der mythologischen Hydra hat es ein besonderes Bewandtnis mit ihren Köpfen: Griechischen Sagen zufolge wachsen der vielköpfigen und zerstörungswütigen Wasserschlange zwei neue Köpfe, sobald einer abgetrennt ist. Ein Kampf gegen sie ist für den legendären Helden Herakles entsprechend kräftezehrend und gelingt nur durch Teamwork und die List, die Köpfe auszubrennen.
Auch reale Lebewesen können ihre Köpfe nachwachsen lassen, sind im Normalfall aber für Menschen nicht furchteinflößend. Süßwasserpolypen, die den Gattungsnamen Hydra tragen, werden nur bis zu drei Zentimeter lang. Ihrer Beute gegenüber allerdings setzen sie lähmendes Gift ein: Um winzige Wassertiere wie Insektenlarven und Plankton zu verspeisen, verwenden sie Nesselkapseln an ihren Tentakeln, die bei Berührung blitzschnell – in drei Mikrosekunden – aktiviert werden.
Im Gegensatz zur fiktiven Seeschlange befinden sich bei den Nesseltieren keine Köpfe am Ende der sich schlängelnden Körperteile. Vielmehr sitzen ihre Tentakel am Kopf fest, der das eine Körperende der Tiere darstellt. Das andere Ende wird Fuß genannt, damit ist es ihnen möglich, sich an etwas festzusetzen.
Meister der Unsterblichkeit
Ihre Regenerationsfähigkeit ist äußerst beeindruckend: Werden sie in der Mitte halbiert, also Kopf und Fuß voneinander getrennt, bilden beide Teile das ihnen abhanden gekommene Körperteil neu aus. Und schneidet man sie in Scheiben, können Mittelteile sowohl Kopf als auch Fuß rekonstruieren. Eine Fähigkeit, die die Tiere auch für die Biotechnologie spannend macht – und für die Alterungsforschung, sie gelten als biologisch unsterblich.
Dafür besitzen die Polypen offenbar einen perfekten Cocktail aus fähigen Stammzellen, die sich teilen und in verschiedene Zelltypen weiterentwickeln können, vor allem aber auch aus Signalmolekülen und Transkriptionsfaktoren, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort Gene ablesen oder ausschalten lassen. Eine Forschungsgruppe um die Biologin Aide Macias-Muñoz von der University of California Irvine sah sich genauer an, wie die Kopfwiederherstellung möglich ist. Die Studie erschien am Mittwoch im Fachblatt "Genome Biology and Evolution".
Ablesbare DNA
Stützen konnte sich die Gruppe auf vorangegangene Studien, in denen einerseits Gene identifiziert wurden, die vermutlich mit dieser Regeneration zusammenhängen, und andererseits verschiedene Entwicklungswege, die bei der nötigen Regulierung eine Rolle spielen. In der neuen Studie stellte die Gruppe erst fest, welche Elemente im sich wiederherstellenden Organismus aktiv sind (mehr als 27.000 an der Zahl).
Dann identifizierte sie insgesamt 1.300 interessante Stellen zur Regulierung. Bei der angewendeten Methode wird festgestellt, wie Proteine mit DNA interagieren. Denn regulierende Proteine beeinflussen, ob ein Genabschnitt für den Organismus gerade wichtig ist. Dann sollte er "eingeschaltet" sein, also die DNA gut ablesbar im Zellkern liegen.
Epigenetische Schalter
Steht gerade auf dem Plan, einen Kopf zu rekonstruieren, müssen natürlich die notwendigen Botenstoffe und andere wichtige Proteine produziert werden. Um Gene ein- und auszuschalten, führen Organismen epigenetische Veränderungen durch: Sie beeinflussen nicht die Zusammensetzung der Sequenz selbst, sondern wie gut diese abgelesen werden kann – und somit wie aktiv sie ist.
Das Forschungsteam stellte fest: Eine Untergruppe der interessanten regulatorischen Elemente, die zum Genom gehören, wird während der Wiederherstellung des Kopfes umgestaltet. Es liegt also die Vermutung nahe, dass diese spezifischen Elemente bestimmen, wie sich der Organismus im Falle eines Kopfverlustes weiterentwickelt. Dazu schalten sie nach Bedarf Gene aus und ein.
Unterschiede zur asexuellen Fortpflanzung
Dabei fanden die leitende Studienautorin Macias-Muñoz und ihr Team heraus, dass diese Rekonstruktion nicht unbedingt ähnlich verläuft wie die Vermehrung der Süßwasserpolypen. Diese wird als Knospung bezeichnet. Sie gibt es auch bei Pflanzen – hier entstehen Auswüchse, die die Grundlage für einen unabhängigen Organismus bilden. Bei Tieren werden ein paar Zellen an der Oberfläche abgeschnürt und so zu Tochterindividuen.
"Die Programme zur Kopfregeneration und zur Knospung sind in der Hydra sehr unterschiedlich", sagt Macias-Muñoz – das habe zu den aufregenden Erkenntnissen ihrer Arbeit gezählt. "Obwohl das Ergebnis – ein Hydra-Kopf – das gleiche ist, ist die Genexpression während des Regenerierens um einiges variabler."
Evolution
Der Biologin zufolge haben die Ergebnisse auch evolutionsbiologische Bedeutung: Sie deuten darauf hin, dass komplexe Entwicklungsverstärker, wie sie bei den Polypen gefunden wurden, schon vorhanden waren, bevor sich die Tiergruppen der Nesseltiere und die der sogenannten Bilateria trennten. Letzterer Begriff bezeichnet Tiere, die zumindest in ihrer Embryonalentwicklung zwei spiegelbildlich symmetrische Körperseiten besitzen. Dazu gehört auch der Mensch.
Diese "komplexen Entwicklungsverstärker" teilen wir also mit den tentakulösen Regenerationsweltmeistern – auch wenn sie bei uns nicht dafür sorgen, dass wir quasi unsterblich sind. Wer weiß, welchen evolutionären Preis wir dafür hätten zahlen müssen. (sic, 8.12.2021)