Die Körperhaltung ist beim Schach alles andere als primär. Magnus Carlsen wirkt weiterhin voll konzentriert und ist mit dem dritten Sieg der Entscheidung im Duell mit Jan Nepomnjaschtschi einen großen Schritt näher gekommen.

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Nepomnjaschtschi mit neuer Frisur und einem Geschenk für Carlsen.

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Dubai – Wenn einem bei einer Schachweltmeisterschaft einer der beiden Spieler leid zu tun beginnt, dann ist das kein schöner Moment. In Dubai ist es spätestens nach Partie neun so weit. Jan Nepomnjaschtschi ist offensichtlich so weit von seiner Normalform entfernt, dass auch Weltmeister Magnus Carlsen sich von Sieg zu Sieg immer weniger über den Erfolg zu freuen vermag. Zu einfach macht sein Gegner es ihm derzeit in den entscheidenden Momenten. Carlsen kann gar nicht anders, als die verfrühten russischen Weihnachts-Geschenke leicht beschämt zu akzeptieren.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 9.
Österreichischer Schachbund

Neuer Haarschnitt, neuer Zug

Dabei beginnt die neunte Partie ein weiteres Mal recht vielversprechend für den Herausforderer. Nepo ist nicht nur mit einem neuen, dynamisch wirkenden Haarschnitt ans Brett gekommen, er hat auch einen neuen Zug mitgebracht. Nun, ganz neu ist 1. c4, die Englische Eröffnung, natürlich nicht. Howard Staunton, Vorkämpfer des englischen Schachs, nach dem übrigens auch der heute bei allen Schachturnieren verwendete Figurensatz benannt ist, spielte so bereits erstmals 1843. Mit dem Aufkommen der hypermodernen Ideen im Schach zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich der Eröffnungszug dann durch, wird aber bis heute seltener als die beiden Zentralbauernzüge 1.e4 und 1.d4 gespielt.

Bei dieser WM stand 1.c4 noch nicht am Brett, Nepomnjaschtschi hatte zuvor all seine Weißpartien mit 1.e4 eröffnet. Von den Anti-Marshall-Varianten, in denen sich der Herausforderer an Carlsens geduldigem Defensivschach die Zähne ausbiss, hat er nun aber offenbar genug. Die Englische Partie gilt zwar als weniger prinzipiell, hat gegenüber 1. e4 aber den Vorteil, mehr Flexibilität zu wahren und bietet somit womöglich bessere Chancen, den Gegner auf nicht vorbereitetes Terrain zu locken.

Vergesslicher Carlsen

Tatsächlich nimmt sich Magnus Carlsen bereits für seine ersten drei Züge etwas Zeit. Der Weltmeister muss entscheiden, ob er sich auf jenen Aufbau verlässt, den er vor dem Match gegen die Englische Eröffnung vorbereitet hat; oder ob er angesichts seines Zwei-Punkt-Vorsprungs einen anderen, noch solideren Weg wählt. Nach ein paar Minuten des Zögerns hält Carlsen seiner Vorbereitung die Treue und schiebt im dritten Zug den Damenbauern nach d4.

Die Konturen der Partie sind damit bereits vorgezeichnet: Der Weltmeister hat sich auf eine Benoni-Struktur mit vertauschten Farben eingelassen, eine anspruchsvolle Wahl, die Schwarz ein Spiel auf Gewinn ermöglicht, dafür jedoch auch strategische Risken birgt. Nach elf Zügen erreichen die Spieler eine Stellung, die sie vermutlich beide in ihrer Vorbereitung am Analysebrett hatten. Nur kann Carlsen, wie er später gesteht, sich einmal mehr nicht genau an die ab hier geplanten Varianten erinnern. Sofern es sich dabei nicht um Koketterie oder psychologische Kriegsführung des Weltmeisters handelt, darf man durchaus erstaunt darüber sein, dass der für sein herausragendes Gedächtnis bekannte Carlsen in Dubai zum wiederholten Mal eröffnungstheoretische Erinnerungslücken offenbart.

Das Ergebnis ist ein auch optisch sichtbarer Stellungsvorteil für Jan Nepomnjaschtschi, der nach 13 Zügen besser entwickelt ist und über ein schönes Bauernpaar auf c4 und d4 verfügt. Carlsen dagegen wird erst noch zeigen müssen, wie er sein Sorgenkind, den weißfeldrigen Läufer auf c8, ins Spiel zu bringen gedenkt.

Zu schnell

Dann aber wiederholt sich etwas, das bei dieser WM bisher in fast jeder Partie zu beobachten war: Nepo, der eine wirklich vielversprechende Stellung erreicht hat, denkt in den kritischen Momenten nicht lange genug nach, obwohl er noch über einen mehr als ausreichenden Bedenkzeitvorrat verfügt. Im 15. Zug schlägt der Russe Carlsens weit vorgerückten Bauern auf a3, was Weiß eine dauerhafte Schwäche auf a2 beschert und die schwarzen Schwerfiguren zur Aktivierung einlädt. Mit dem vorübergehenden Bauernopfer 15. b4! stand Nepomnjaschtschi eine stärkere Fortsetzung zur Verfügung.

In der Folge holt Carlsen seinen Läufer von der Grundreihe, nur um ihn bald darauf auf einem anderen Grundreihenfeld wieder sicher zu verstauen: ein wohlbekanntes Defensivmanöver in beengten Stellungen, um die Türme zu verbinden und eine schwer zu erschütternde Auffangstellung einzunehmen.

Gerade als der Weltmeister jede Gefahr gebannt zu haben scheint, unterläuft ihm, dem langsam die Bedenkzeit knapp wird, ein instruktiver Fehler. Der Schwarze schickt sein Rössel aggressiv nach vorne, um die weiße Dame zu attackieren, und übersieht dabei, dass Nepomnjaschtschi im Gegenzug den Damentausch offerieren kann. Der Zug wirkt zunächst paradox, weil Weiß mehrere Bauernschwächen verwaltet, die im Endspiel zum Problem werden könnten. Nepo aber erspäht sofort, dass Carlsen nun ein Tempo aufwenden muss, um seinen Springer in Sicherheit zu bringen, während der Weiße am schwarzen Damenflügel zum Bauernschmaus schreitet: 26. Lxb7.

Nun ist das alles für Schwarz weniger schlimm, als es aussieht. Die weißen Bauernschwächen laufen nicht davon, und sobald der Nachziehende die optimale Koordination seiner Figuren hergestellt hat, sollte er über mindestens ausreichende Kompensation für das materielle Defizit verfügen. Da ist allerdings noch Carlsens Zeitproblem: Für 15 Züge bis zur ersten Zeitkontrolle sind ihm nur noch 17 Minute verblieben. Wenn es Nepo jetzt gelingt, das Spiel zu verwickeln, lästige taktische Ideen zu finden, dann kann er seinen Gegner vielleicht in einen Fehler treiben.

Schachblindheit

Und der Fehler kommt auch – allerdings auf der falschen Seite. Mit über 50 Minuten Restbedenkzeit auf der Uhr spielt Nepomnjaschtschi nach kurzem Nachdenken den Verlustzug 27. c5??. Es ist ein fast noch schlimmerer Aussetzer als 21...b5?? in Partie acht. Denn nach Carlsens naheliegender Antwort 27...c6, die das weitere Vorrücken des englischen Bauern verhindert, wird sofort klar, dass der weiße Läufer auf b7 gefangen ist und nur noch untätig auf seine baldige Exekution warten kann.

Nepo ist wieder einmal in seinem Ruheraum, als Carlsen den weißen Läufer einsperrt. Und er bleibt lange dort. Zwanzig Minuten lässt sich der Russe nicht am Brett blicken, obwohl er am Zug ist. Gerade als man geneigt sein könnte, darüber zu spekulieren, ob der Herausforderer den Ort der Schande vielleicht fluchtartig verlassen hat, setzt Nepomnjaschtschi sich hinter seine Stellungsruine und führt gefasst Züge aus.

Nur ein einmaliger Patzer Carlsens könnte den Weltmeister nun noch den Sieg kosten. Er unterläuft ihm nicht. Stattdessen nutzt der Champion wie schon in Partie acht die ihm noch verbliebene Bedenkzeit, um den präzisesten Weg zum Sieg aufzuspüren, den er sodann selbstbewusst einschlägt.

Drei Punkte Rückstand

Nach 39 Zügen ist endgültig klar, dass Nepomnjaschtschis a-Bauer sich an diesem Tag nicht in eine Dame verwandeln wird, auch wenn er es bis nach a7 geschafft hat. Für die Mehrfigur des Schwarzen verfügt Weiß über keinerlei Kompensation, und so muss der Herausforderer zum dritten Mal in den letzten vier Partien die Waffen strecken: Es steht 6:3.

Rein rechnerisch verfügt Nepomnjaschtschi auch nach dieser krachenden Niederlage immer noch über genügend Möglichkeiten, ins Match zurückzufinden. Er müsste aus den verbleibenden fünf Partien vier Punkte holen, um Gleichstand zu erzielen und ein Tiebreak zu erzwingen. Praktisch aber wird nach diesem Akt der schachlichen Selbstzerstörung niemand mehr an ein Comeback des Russen glauben können.

Ob es Jan Nepomnjaschtschi gelingt, sich in Partie zehn zumindest zu stabilisieren, oder ob Carslens Siegesserie weitergeht, wird sich bereits am morgigen Mittwoch zeigen. Der Weltmeister führt dann die weißen Steine. (Anatol Vitouch, 7.12.2021)