Leonore Gewessler muss ihre aktuelle Haltung überdenken, sagt Rudolf Schicker, früherer SPÖ-Stadtrat für Stadtentwicklung und Verkehr, im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch die Beiträge von Alexander Behr und Stefan Frankenberger.

Es gibt keinen Plan für eine weitere Querung der Donau für eine weitere S-Bahn, es gibt keinen Plan für eine geänderte Straßenführung.
Foto: Imago Images

Bundesministerin Leonore Gewessler hat entschieden, so wird es in den Medien dargestellt. Den Umfahrungsring von Wien soll es nicht geben. Das war eine seit Wochen erwartete Entscheidung. Und es ist "sexy": In Zeiten der notwendigen Verhaltenswende zur Erreichung der Glasgow/Paris-Ziele ist es leicht, gegen Straßenprojekte aufzutreten. Was sonst sollte eine Grüne als Umwelt- und Verkehrsministerin tun. Frau Gewessler geht den vermeintlich vorgezeichneten Weg, "weil das Projekt (…) Grünraum versiegelt".

Gerade das ist ein spannendes Argument: Gilt das nicht auch oder viel eher für den Brennerbasistunnel, für eine Schnellstraße (S10) von Freistadt an die Staatsgrenze, die sie kurz vor der Landtagswahl in Oberösterreich noch zugesagt hat? Der Brennerbasistunnel ist 55 Kilometer lang, der Tunnel unter der Lobau nur acht. Die S10 ist auch mehr als 20 Kilometer lang. Bei Letzterer wird das Ministerium folgendermaßen zitiert: "Bei dem Ausbau handle es sich um ein "notwendiges Projekt insbesondere auch zur Entlastung der Anrainergemeinden", und die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) sei schon abgeschlossen.

Bei Wien ist das anders

Zugegeben, die S10 betrifft drei Gemeinden mit einer Siedlungsdichte von unter 100 bis um die 500 Einwohner/km². Das braucht Umfahrungen. Bei Wien ist das anders, der vergleichbare Wert liegt über 5.000 EW/km². Man ist versucht, dem Ministerium in den Mund zu legen: "die sind selbst eh so laut, die brauchen keine Umfahrung".

Die bisher bekannten Argumente von Gewessler ließen sich auf viele Projekte anwenden, auch auf Prestigeprojekte des Klima- und Verkehrsministeriums. Der von der damaligen grünen Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou in Auftrag gegebenen Evaluierung wurde keine Aufmerksamkeit geschenkt, genauso wie der Strategischen Umweltprüfung für den Nordosten Wiens, die als Grundlage der Planung für den Umfahrungsring als breit angelegtes Bürgerbeteiligungsprojekt durchgeführt wurde. Und ja, in Oberösterreich, da zählt eine fertiggestellte UVP, in der Ostregion nicht.

Schlüssiges Konzept für Alternativen

Wollte die Frau Bundesministerin eine seriöse Verkehrspolitik unter Einhaltung der Klimavorgaben machen, dann hätte sie mit dem Stopp des Umfahrungsrings um Wien ein schlüssiges Konzept für die Alternativen inklusive Zeit- und Kostenplan vorlegen müssen. Aber das gibt es nicht. Es gibt keinen Plan für eine weitere Querung der Donau für eine weitere S-Bahn, es gibt keinen Plan für eine geänderte Straßenführung (inklusive Zeit und Kosten), von der die Ministerin Anfang Dezember gesprochen hat!

Was folgt daraus: Die Donaustadt wird in den alten Ortskernen weiter am Individualverkehr ersticken, die dringend notwendigen neuen, geförderten Wohnungen werden nicht gebaut werden können, die Suche nach erschwinglichen Wohnungen für zigtausende Familien wird noch mehr erschwert. Der Nord-Süd-Durchzugsverkehr wird weiterhin drei Kilometer Luftlinie am Stephansdom vorbeigeführt. Der Donaustadt wird mit dieser Entscheidung signalisiert: Das kann doch kein Problem für euch sein, so viele Einwohner wie St. Pölten oder Wr. Neustadt ohne ergänzende Straßenverbindung aufzunehmen.

Es gibt noch Hoffnung

Doch es gibt noch Hoffnung: Gewessler braucht den Koalitionspartner, um den Umfahrungsring um Wien endgültig zu killen. Das geht nur, wenn die S1 nicht mehr im Bundesstraßengesetz aufscheint. Einer Änderung will die ÖVP nicht zustimmen. Das lässt Spielraum und Zeit für die Frau Bundesministerin, ihre aktuelle Haltung anzupassen, zum Wohle der Wienerinnen und Wiener wie auch der Marchfelderinnen und Marchfelder. (Rudolf Schicker, 9.12.2021)