Olaf Scholz ist der vierte deutsche Bundeskanzler, der in den vergangenen 40 Jahren angelobt wurde, Karl Nehammer ist Österreichs zwölfter – wenn man Sebastian Kurz doppelt zählt. In Deutschland wurde seit 1981 das Parlament zweimal vorzeitig aufgelöst, in Österreich geschah das sechsmal.

Auch jetzt gehen viele Kommentatoren davon aus, dass die Koalition von ÖVP und Grünen nicht bis zum regulären Wahltermin in drei Jahren halten wird. In Deutschland gibt es solche Spekulationen trotz der vielen inneren Widersprüche der Ampelkoalition nicht. Obwohl die Legislaturperiode in Österreich ein Jahr länger läuft als in Deutschland, wird hierzulande viel öfter gewählt. Die deutsche Politik ist nach dieser Zählung dreimal so stabil wie die österreichische.

Karl Nehammer wurde von Alexander van der Bellen als neuer Bundeskanzler angelobt.



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Das mag an den Persönlichkeiten liegen, die in Bonn und Berlin regiert haben – seit Franz Vranitzky hatte Österreich keinen Kanzler, der über Jahre hinaus so viel Respekt genoss wie etwa Angela Merkel –, und an der politischen Kultur. Dreimal waren es Eruptionen in der FPÖ, die zu vorzeitigen Wahlen führten, dreimal wollten ÖVP-Obmänner ihre Partei so aus der ungeliebten Rolle des Juniorpartners befreien. Das gelang aber nur einmal: Kurz im Jahr 2017.

Aber der entscheidende Unterschied liegt in den Verfassungen der beiden Staaten. Das deutsche Grundgesetz lässt eine vorzeitige Auflösung des Bundestags nur unter außergewöhnlichen Umständen zu. Ein Misstrauensvotum gegen einen Kanzler ist nur möglich, wenn gleichzeitig ein Nachfolger gewählt wird. Die Gründerväter der Bundesrepublik wollten damit instabile Zustände wie in der Weimarer Republik verhindern – ein Trauma, das Österreich nicht auf diese Weise teilt.

Klarsichtige Entscheidungen

Deutschland ist mit dieser erzwungenen Stabilität gut gefahren. Kanzlerwechsel werden nicht leichtfertig eingefädelt, Zufallskanzler wie Alexander Schallenberg sind kaum vorstellbar, und auch die Ergebnisse von Bundestagswahlen spiegeln meist recht klarsichtige Entscheidungen der Wählerschaft wider. Das gilt auch für den Sieg des souveränen Scholz gegen den unbeholfenen Unionskandidaten Armin Laschet.

Da in Österreich nun einer der geübten Koalitionssprengmeister die politische Bühne verlassen hat, wäre die Zeit für eine Verfassungsreform gekommen, die die Langlebigkeit von Regierungen erhöht und Wahlkämpfe reduziert. Die Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre im Jahr 2007 hat dazu nichts beigetragen. Notwendig wären stattdessen Verfassungsklauseln, die es Koalitionsparteien deutlich schwerer machen, Neuwahlen auszulösen.

Das sollte auch dann gelten, wenn es um das Ende einer Koalition mit einer unberechenbaren FPÖ geht. Anders als oft behauptet, ist ein fliegender Partnerwechsel kein undemokratischer Akt – vor allem wenn die Parteien ohne feste Koalitionsankündigungen in den Wahlkampf gezogen sind.

Wahlkämpfe mögen zwar nicht immer eine "Zeit fokussierter Unintelligenz" (© Wiens Altbürgermeister Michael Häupl) sein, aber sie fördern nur selten konstruktive Diskussionen. Was immer man von der jetzigen Regierung hält – sie soll bis 2024 im Amt bleiben und sich dann der Wählerschaft stellen. Der Verlockung, durch taktisches Vorziehen von Wahlterminen sich einen Vorteil zu verschaffen, sollte ein rechtlicher Riegel vorgeschoben werden. Für die Politik in Österreichs wäre das ein Gewinn. (Eric Frey, 10.12.2021)