Die Polizei in Österreich ist seit Monaten verzweifelt bemüht, immer schrillere Anti-Corona-Demos nicht eskalieren zu lassen.

Foto: Christian Fischer

Vor Spitälern in Oberösterreich stehen Security-Bedienstete. Krankenhausmitarbeiter werden mit Pfefferspray ausgestattet. Die Anfeindungen und Übergriffe von Corona-Leugnern haben so zugenommen, dass die oberösterreichische Gesundheitsholding sich nicht mehr imstande sah, auf andere Weise den Schutz der Belegschaft zu garantieren.

In Niederösterreich muss eine Ärztin unter Polizeischutz Impfungen durchführen, weil ihr Impfgegner in Anrufen und E-Mails drohten. Und in Wien mussten jüngst Grätzelpolizisten ausrücken, weil Aktivisten vor einer Schule auftauchten, in der eine Impfaktion durchgeführt wurde.

Egal, wohin man blickt: Die Drohungen rabiater Impf- und Coronamaßnahmen-Gegner werden schärfer. Je radikaler die Maßnahmen von Regierungen zur Bekämpfung der Pandemie werden, desto radikaler agieren auch die Maßnahmengegner.

Eskalation in Guadeloupe

In Deutschland, wo die neue Regierung aus SPD, FDP und Grünen eine Impfpflicht auf Schiene bringen will, warnten mehrere Landes-Innenminister vor eine Zunahme von Protesten gegen die Verschärfungen. "Seit Beginn der Corona-Pandemie lässt sich beobachten, dass eine Verschärfung von Corona-Eindämmungsmaßnahmen mehr Proteste und Demonstrationen nach sich zieht", sagte jüngst Tamara Zieschang, Innenministerin von Sachsen-Anhalt, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht heize dies erneut an.

Eskaliert sind die Proteste im französischen Überseegebiet Guadeloupe. Ab Mitte November verschärfte sich die Situation, weil Paris neue Maßnahmen verhängte. Ärzte, Pflegepersonal und Feuerwehr streikten gegen die Einführung einer Impfpflicht für ihre Berufsgruppen. Frankreich schickte zusätzliche Truppen und verhängte eine nächtliche Ausgangssperre.

DER STANDARD

Bei Ausschreitungen wurden Straßen blockiert, Geschäfte geplündert und Gebäude und Autos angezündet. Mehrere Sicherheitskräfte wurden verletzt. Am Rande der Proteste wurde sogar scharf auf die Polizisten geschossen. Der zuständige Minister für die Überseegebiete, Sébastien Lecornu, führte diese Vorfälle auf bewaffnete kriminelle Banden zurück, die die Ausschreitungen als Trittbrettfahrer nutzten.

Auch auf der Insel Martinique kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen, auch hier wurden Polizisten verletzt. Auf den beiden Karibikinseln liegt die Impfquote bei nur rund vierzig Prozent, während sie im Mutterland doppelt so hoch ist.

Angespannte Situation

Muss man auch in Österreich mit zunehmender Gewaltbereitschaft rechnen? Vieles deutet darauf hin. Die Protestszene befindet sich im Aufwind, das zeigen die vergangenen Wochen eindrücklich. Demonstrationen finden in erstaunlicher Regelmäßigkeit und Größe statt, und auch hierzulande kam es bereits zu Ausschreitungen gegen Polizisten.

Im Frühjahr wurde ein Versicherungsgebäude gestürmt, regelmäßig kommt es zu Verstößen gegen das Verbotsgesetz. Es gab Todesdrohungen gegen Regierungsmitglieder, im Mai wurde ein Waffenlager in der Szene ausgehoben.

Auf der Insel Guadeloupe eskalierten die Proteste.
Foto: AFP / Christophe Archambault

Immer wieder kapern Rechtsextreme Demos und dirigieren tausende Menschen durch die Stadt. Das wird mittlerweile selbst manchem Mitveranstalter zu heiß, wie in einschlägigen Gruppen zu lesen ist: "Unsere Waffe ist das Wort, nicht die Faust", heißt es in der Begründung einer Protestgruppe, warum man sich vorläufig zurückziehe – um sich dann später doch wieder anzuschließen.

Hauptthema für Verfassungsschutz

Das deckt sich mit der Einschätzung des Verfassungsschutzes. Der neu amtierende DSN-Chef Omar Haijawi-Pirchner spricht in Bezug auf die Szene der Coronaleugner von der "größten Bedrohung", die es für die innere Sicherheit derzeit gebe, wie er dem STANDARD sagt. Coronamaßnahmengegner und die Gefahren radikaler Ausprägungen in dem Bereich seien aktuell das Hauptthema für den Verfassungsschutz.

Sachbeschädigungen oder Angriffe auf Polizisten – beides hat es schon gegeben – seien "Initialzündungen für viele, die dann aufspringen". Das größte Risiko sei, dass Rechtsextreme die Szene nutzen, um ihre Ideologie voranzutreiben, sagt Haijawi-Pirchner.

Die Protestbewegung an sich ist ein relativ diffuses Milieu. Politikwissenschafter Timo Reinfrank ist Geschäftsführer der Amadeu-Antonio-Stiftung und beobachtet die Szene im deutschsprachigen Raum schon lange. Er beschreibt sie als Mischung aus traditionell unpolitischen, die Demokratie ablehnenden Menschen, die oft nicht wählen gehen, sowie klassischen Rechtsextremen und Rechtspopulisten und esoterisch-naturnahen Gruppen.

Auch Evangelikale mischten stark mit. Das ist in Österreich ähnlich: Nur auf der religiösen Seite spielen eher katholische Fundamentalisten eine Rolle als Evangelikale. Und so kommt es, dass bei den Demos Esoteriker grinsend über die Wiener Ringstraße ziehen, während einen Meter daneben Hooligans die Polizei provozieren.

FPÖ mittendrin

Was hält all diese Gruppen momentan ideologisch zusammen? Die Klammer sei eine von Verschwörungsideologie geprägte Sicht auf die Welt, erklärt Sozialpsychologin Pia Lamberty vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie, in dem zu Verschwörungsideologien, Rechtsextremismus und Desinformation geforscht wird. Hier geht es etwa um den Glauben daran, dass die Impfung tödlich sei oder die Regierung Schutzmaßnahmen und Verbote eigentlich gar nicht wegen Corona erlasse.

Von all dem unbeeindruckt zeigt sich die drittstärkste Parlamentspartei FPÖ. Sie ist ein gewichtiger Player in der Szene. Berührungsängste zum radikalen Rand sind dabei nicht wahrzunehmen. Im Gegenteil: Als die Nationalratsabgeordnete Dagmar Belakowitsch vergangene Woche in ihrer Rede davon sprach, dass die Spitäler nicht aufgrund von Corona-Kranken, sondern wegen Impfschäden überfüllt seien, teilte sie sich eine Bühne mit Einpeitschern und Organisatoren der hiesigen Querdenker-Szene. Für diesen Samstag lud die FPÖ selbst zur "Großkundgebung" in Wien. Auch Parteichef Herbert Kickl nahm teil.

"Kumpanei mit Narren"

Wird das nicht selbst manchen innerhalb der Partei zu steil? Hört man sich in der FPÖ um, gibt es tatsächlich auch Stimmen, die den Corona-Kurs des Parteichefs zumindest hinterfragen. Zwar habe Kickl die FPÖ nach der Ibiza-Affäre in den Umfragen damit stabilisiert.

Aber manch einer sorgt sich, "welche Leute mit welchen Denkweisen" man auf den Demos einsammelt, wie ein Freiheitlicher im Schutze der Anonymität erzählt. Dort seien mitunter "sektoid Denkende" unterwegs, für die Debatte und Kompromisse nicht mehr zählten. Der Schritt vom taktisch legitimen Vorgehen hin zur "Kumpanei mit Narren" sei ein kleiner.

Von einem Riss, der durch die Partei geht, kann aber nicht gesprochen werden. Grundsätzlich trägt man Kickls Kurs mit, vor allem den Widerstand gegen die Impfpflicht. Wenngleich sich nicht gerade wenige Freiheitliche selbst gegen das Coronavirus impfen lassen – das wird zumindest erzählt. Das zeige, dass es parteiintern hier durchaus "differierende" Ansichten gebe, sagt ein langjähriger Blauer.

Aber wie schon unter Jörg Haider oder Heinz-Christian Strache sei nun auch Kickl als Parteichef "alternativlos", und selbst Andersdenkende sagten mehrheitlich zu allem Ja und Amen. Zuletzt sorgte FPÖ-Urgestein Andreas Mölzer für Aufsehen. Wie auch Oberösterreichs Landesvize Manfred Haimbuchner hält er die Impfung für sinnvoll. Kickl stellt deren Wirkung dagegen immer wieder infrage.

Trendsetter

Österreich gilt in der Szene gewissermaßen als Trendsetter, auch die deutschen Corona-Leugner blickten hierher, sagt Politikwissenschafter Reinfrank: "Wien strahlt auf uns aus." Nach und nach habe auch die erst zögerliche AfD die Strategie der FPÖ kopiert, sich mit der Protestbewegung zu verbrüdern.

Ähnlich wie in Österreich sei das Protestlager derart schnell gekippt, dass sich Gemäßigte – wie etwa manche Gewerbetreibende – rasch davon distanziert hätten. Er erklärt sich das auch damit, dass "in der unmittelbaren Bedrohungssituation durch das Virus die Bereitschaft für Maßnahmen stark gestiegen ist". Und die Verbliebenen seien mittlerweile selbst radikalisiert.

Die Radikalisierung der Maßnahmengegner wirkt sich auch auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu Corona aus. Manche haben offenbar Angst, mit Kritik an einzelnen Maßnahmen oder Empfehlungen in ein Eck gedrängt zu werden. "Es ist mir derzeit leider augenscheinlich nicht ausreichend möglich, mit meinem Versuch differenzierter Information etwas Sinnvolles zur öffentlichen Diskussion beizutragen", begründete etwa der Chef der deutschen Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, jüngst eine Interview-Absage an den STANDARD.

Zuvor war Mertens öffentlich dafür kritisiert worden, weil er gemeint hatte, er würde seine eigenen Kinder derzeit nicht impfen lassen. CDU, SPD und FDP fanden das auch deshalb befremdlich, weil Mertens diese Aussage machte, noch bevor die Stiko mit einer offiziellen Empfehlung nach außen ging.

Appelle an Verantwortung

Im schlimmsten Fall liefern Regierungen begriffliche Vorlagen, die radikalisierte Gruppen dankbar aufnehmen können. Dass die österreichische Regierung am Anfang der Pandemie von Personen, die sich nicht an Maßnahmen halten, als "Lebensgefährdern" sprach, sei womöglich "kontraproduktiv" gewesen, sagt der Politikwissenschafter Reinfrank. So etwas werde von bestimmten Gruppen zur Radikalisierung genutzt. "Es ist gut, an die Verantwortung zu appellieren, aber solche Zuspitzungen verbauen vielleicht später auch Möglichkeiten."

Bei den Anti-Corona-Maßnahmen-Demos tummelt sich in der Regel unter anderem auch ein naturnah-esoterisches Milieu.
Foto: APA / Florian Wieser

Denn auch die Protestler haben wohl ihrerseits das Gefühl, Verantwortung zu übernehmen. Man versuche über Geheimwissen und Codes die Strategien der Mächtigen zu entschlüsseln, erklärt die Sozialpsychologin Lamberty.

Menschen, die zu Verschwörungstheorien tendieren, hätten zudem ein stärkeres Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Wenn man das auf die Pandemie umlegt, ergibt das Sinn: "Durch die Verbreitung von bestimmten Narrativen bekommt man Aufmerksamkeit und kann sich als Held des Widerstands inszenieren." Lamberty spricht von "kollektivem Narzissmus", der auch mit Feindseligkeit gegenüber anderen einhergehe.

Politische Bildung

Wie oder ob man die radikalisierten Impfgegner wieder zurück in die Gesellschaft holen kann, wird wohl eine der herausforderndsten Fragen der nahen Zukunft sein – sowohl was die Beeinflussung des gesellschaftlichen Diskurses durch radikale Positionen von rechts als auch die Perspektive der inneren Sicherheit betrifft.

Viele seien derzeit jedenfalls in einem Wahn gefangen, sagt Reinfrank: "Worüber man sich unbedingt Gedanken machen muss, und zwar nicht erst, wenn die Pandemie vorbei ist: Wie kann man die Leute künftig besser politisch bilden? Wie kann die Sozialarbeit die Leute wieder erreichen?"

Gerade am Anfang der Pandemie haben sich viele Parteien, Anlaufstellen und Vereine aus der Gesellschaft zurückgezogen – eben auch, weil Kontaktbeschränkungen notwendig waren. Diese Leerstelle haben Extremisten zu füllen gewusst. Ob aus dieser Szene nun eine dauerhafte politische Bewegung entsteht, lässt sich jetzt noch schwer beurteilen. Bei der Oberösterreich-Wahl wurde mit der MFG zumindest eine Partei gegründet, die einen Teil der Protestierenden abdeckt.

Letzten Endes gelte es in einer Demokratie rote Linien zu ziehen, sagt Lamberty. Das sei nicht nur strafrechtlich zu sehen: "Wenn es um menschenverachtende Äußerungen geht oder Desinformation verbreitet wird, ist es okay zu sagen: Da schließe ich jetzt eine Tür." Anders müsse man urteilen, wenn jemand verunsichert sei – etwa ob man nach einer Impfung noch schwanger werden könne.

Hier liegt auch die gute Nachricht in der aktuell aufgeheizten Situation: Acht Prozent sind noch unsicher, ob sie sich impfen lassen sollen. Das zeigt das "Corona Panel"-Forschungsprojekt der Uni Wien. Es ist jene Gruppe, um die sich Verantwortungsträger jetzt bemühen können – und so den Risikopool jener verringern, die sich im "Widerstand" gegen eine "Impfdiktatur" wähnen. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, Michael Vosatka, 11.12.2021)