Mit betont ernster Miene kommentiert die SPÖ-Chefin, Pamela Rendi-Wagner, zu verschiedensten Anlässen die Corona-Politik der Bundesregierung. Manchmal schießen ihre Bemühungen der schwierigen Situation und deren Bedeutung von medizinischer Perspektive aus Ausdruck zu verleihen, etwas über das Ziel hinaus, wenn sie beispielsweise davon spricht, wie viele Tote noch sterben müssen. Aber derartige Versprecher können jedem von uns im Eifer des Gefechts passieren, auch wenn die Formulierung sinnbildlich durchaus im mehrdimensionalen Sinn zur aktuellen Situation der Polarisierungen passt.

Aber wie Sie wissen, bin ich Psychologe und vielleicht ist das eine Form der Fixierung meinerseits auf diese Ebenen der Kommunikation. Zurück zur starken und hartnäckigen Frau und Parteichefin, die sich trotz machoartigem Gegenwind bis heute auf dem Sattel der Sozialdemokratie hält. Man merkt ihr an, dass sie Kanzlerin werden will. Das steht außer Frage. Ob sie das Zeug zur Führung im Staate hat, steht auf einem anderen Blatt, soll nun aber zur Diskussion gestellt werden.

Verfügt Rendi-Wagner über die Gabe der politischen Synästhesie?

Unter Synästhesie versteht man “mitempfinden“ oder “zugleich wahrnehmen“. Es ist die Fähigkeit des gleichzeitigen Empfindens von zwei verschiedenen Eindrücken bei Reizung eines Sinnesorgans. Beispielsweise das Sehen von Farben bei der Wahrnehmung von Tönen. Menschen, die Wahrnehmungen derart verknüpft erfahren, werden als Synästhetiker bezeichnet. Legen wir dieses kognitive Phänomen im weitesten Sinne auf Parteien um, ist zu reflektieren, inwiefern es sich bei der Sozialdemokratie noch um eine Bewegung handelt, die über die Begabung des assoziativen Mitempfindens verfügt.

Praktisch stellt sich die Fragestellung, ob die SPÖ-Vorsitzende, wenn sie die verschiedenen Töne der Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen hört, die unterschiedlichen farblichen Facetten und deren emotionale Bedeutung dahinter decodieren kann. Denn die reine Ratio und das Vermitteln eines seriösen Eindrucks ist für politisch geladene Zeiten zu wenig, um Wahlen zu gewinnen. Es bedarf zentral einer emotional-intuitiven Befähigung.

Rendi-Wagner als Kanzlerin?
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Die Solidarität der SPÖ mit dem kleinen Mann

Ein mehr als beängstigendes Geschehen ist in den letzten Monaten recht deutlich zu beobachten. Die österreichische Zivilgesellschaft wird, verstärkt durch Politik und Medien als Moderatorvariable in zwei Lager, jene der verantwortungsvollen Geimpften und jene der unverantwortungsvollen Ungeimpfen, gespalten. Ohne konkrete Akteure auf politischer wie auf medialer Seite zu nennen, wird oft von einer unbelehrbaren Minderheit gesprochen, die den Weg aus der Pandemie durch sture Resistenz blockiert. Dazu kommt ein Framing, das die Demonstranten bei Corona-Protestveranstaltungen in ein rechtes Eck beziehungsweise in die Nähe der freiheitlichen Partei rückt. Damit ist das Thema schnell abgehandelt und die Impfpflicht legitimiert. Es ist jedoch nicht so einfach, denn unter den Protestierenden befinden sich ebenso Geimpfte, die die demokratiepolitischen Entwicklungen bedenklich finden. In diesem Zusammenhang ist die Sozialdemokratie nicht unbedingt als die Partei mit Empathie für den kleinen, angstvollen Mann auf der Straße aufgetreten und überlässt so das Feld Herbert Kickl. Politstrategisch gesehen ein wenig schlauer Schachzug.

Die Kanzlerinnenschaft in (un)greifbarer Nähe

Lediglich die Regierungslinie in manchmal strengeren oder milderen Nuancen mitzubeten wird nicht genug sein, will man bei kommenden Nationalratswahlen Platz eins erobern. Vor allem, wenn die Spitzenkandidatin vom Wahlvolk wissenschaftlich-spröde wahrgenommen wird. Wer kommt in der österreichischen Klassengemeinschaft besser an, die Musterschülerin beim Rezitieren anatomischer Lehrbücher oder der krakelende Rabauke mit Hang zu einem sehr kreativen Medizinverständnisses? Wir werden sehen. Braucht die Sozialdemokratische Partei Österreichs möglicherweise einen starken Konterpart zu Kickl in Gestalt des populistisch-geschulten Landeshauptmannes Hans Peter Doskozil? Diese Problemstellung wird die stolze Bewegung in ihren Reihen lösen müssen, um bei nahenden Wahlen eine reale Chance auf die Kanzlerinnenschaft zu haben. (Daniel Witzeling, 20.12.2021)

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